HORT DER WISSENSCHAFT

Der erste Schuss

MARTIN HAIDINGER
vom 28.04.2021

"Stellen Sie sich einmal einen 28-jährigen ,jungen NATO-Soldaten vor", sagt Asfa Wossen Asserate, Prinz von Äthiopien, Großneffe Haile Selassies, deutsch-äthiopischer Gentleman, mehrfacher Bestsellerautor und unermüdlicher Aktivist im Dienst des afrikanischen Kontinents. "Der Soldat sitzt da an einem italienischen oder griechischen Strand mit einem großen Maschinengewehr. Hinter ihm ein Offizier. Da kommen 20.000 unbewaffnete Afrikaner den Strand entlang. Der Offizier befiehlt: Schießen! Wird dieser junge Mann schießen? Und wenn er's tut: Nach wie vielen Toten ist dieser Mann im Leben zu nichts mehr zu gebrauchen? Das ist eine Frage, die wir uns in einem Europa stellen müssen, in dem 80 Prozent der Bevölkerung keinen Krieg erlebt haben."

Der erste Schuss. Ob (Gott möge abhüten!) irgendwann in Ceuta oder Sizilien gegen Flüchtlinge oder 1914 auf Franz Ferdinand in Sarajevo oder am 1. September 1939 vom deutschen Kriegsschiff "Schleswig Holstein" auf die "Westerplatte" bei Danzig: Wer immer ihn abgibt, öffnet damit die Pforten der Hölle. Das kann auch ein Schuss in die Luft sein.

Am 12. Juli 1789 feuerte der Jurist und Chefredakteur eines Pariser Stadtblattes, Camille Desmoulins, im Palais Royal eine Pistole ab und verschaffte sich mit diesem Schuss Gehör für seinen Aufruf zum Sturm auf die Bastille. Damit begann das segensreiche Wirken der Französischen Revolution, die nicht nur die Deklaration der Menschenrechte hervorbrachte, sondern auch die postulierte Freiheit in Strömen aus Blut ersaufen ließ. Den Großteil der Guillotinierten machten übrigens nicht Aristokraten, sondern Bauern aus, die die enorm hohen Kriegssteuern der Französischen Republik nicht entrichten konnten. Schließlich fraß die Revolution ihre eigenen Kinder, auch Chefredakteur Desmoulins bestieg letzten Ende zusammen mit seinen radikalen Freunden das Blutgerüst. Viel Öl hatte er ins Feuer gegossen, zuletzt auch gegen seine früheren Spießgesellen Robespierre und Saint Just.

Er büßte genauso für seinen Schuss wie der Sarajevo-Attentäter Gavrilo Princip, der 1918 im Gefängnis in Theresienstadt unter elenden Haftbedingungen an TBC verstarb. Seine letzte Botschaft ritzte er in die Kerkerwand: "Unsere Geister schleichen durch Wien und raunen durch die Paläste und lassen die Herren erzittern." War das die 17 Millionen Toten des Ersten Weltkriegs wert gewesen?

Wer beten kann, möge es dafür tun, dass die Welt mehr auf die Asserates hört und den Desmoulins und Princips die Waffe aus der Hand nimmt.

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