In Afrika forschen, von Afrika lernen

Forschung in Afrika bedeutet, die eigene eurozentrische Weltsicht kritisch zu hinterfragen

HELMUT SPITZER
vom 28.04.2021

Der Begriff "Afrika" wird in der Alltagssprache, in Medien, Politik und Wissenschaft Europas tendenziell einseitig und undifferenziert verwendet, meist mit negativen Zuschreibungen wie Armut, Krieg und Krankheiten. Diese Klischees haben nur wenig mit der Lebensrealität der 1,3 Milliarden Menschen zu tun, die auf dem afrikanischen Kontinent in seinen 55 Staaten leben. Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil wollen auch nicht alle Afrikaner*innen nach Europa: Der Großteil aller Migrant*innen und Flüchtlinge verbleibt in den afrikanischen Herkunftsregionen.

Die Problematik der Forschung in Afrika

Die Lebenswelten der Menschen in Afrika sind von rapiden Transformationsprozessen durch Modernisierung, Urbanisierung und Digitalisierung durchdrungen. Das Mobiltelefon hat die Kommunikation in Afrika revolutioniert. Vor allem für die jungen Generationen sind Internet und Social Media selbstverständlicher Bestandteil ihres Alltags. Dafür mangelt es an Bildungschancen und Arbeitsplätzen. In vielen Ländern gibt es zwar eine wachsende Mittelschicht, doch im Durchschnitt sind in Subsahara-Afrika vierzig Prozent der Bevölkerung von extremer Armut betroffen. Seit mehr als zwanzig Jahren lege ich den Fokus meiner wissenschaftlichen Arbeit in Ostafrika auf die Erforschung von vulnerablen und sozial ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen sowie auf die Handlungsnotwendigkeiten für Sozialpolitik und Sozialarbeit.

Bei meiner Forschung zu "Kindersoldaten" in Uganda, Straßenkindern und alten Menschen in Tansania sowie zu kulturspezifischen Formen der Problemlösung und Lebensbewältigung habe ich mich stets auf ambivalentem Terrain bewegt. Einerseits laufe ich Gefahr, Stereotype über Afrika zu verstärken, indem ich soziale Problemlagen beleuchte und auf die Schattenseiten der Gesellschaft fokussiere. Zum zweiten erlaubt mir die Perspektive des kulturell Außenstehenden, der sich nur vorübergehend in den jeweiligen Ländern aufhält, nur einen eingeschränkten Einblick in die komplexen afrikanischen Lebensrealitäten. Die Möglichkeit der Fehlinterpretation aufgrund der eigenen eurozentrischen Sichtweise muss daher ständig kritisch im Blick behalten werden.

Eine Lösung für dieses Problem besteht in der partnerschaftlichen Forschung mit Kolleg*innen vor Ort, beispielsweise durch Hochschulkooperationen. Nach meiner Erfahrung bedarf es für gelingende internationale Wissenschaftsprojekte zwischen europäischen und afrikanischen Forschungsteams zumindest dreierlei Komponenten: wechselseitiges Vertrauen, kontinuierlichen Dialog und gleichberechtigte Entscheidungsfindung. Gerade Letzteres ist in der Praxis aber oft nur ein Lippenbekenntnis. Tatsächlich bewegen sich die beteiligten Akteur*innen vor dem Hintergrund ungleicher Machtverhältnisse, hierarchisierter Beziehungsstrukturen und paternalistischer Einmischungsfantasien. Das zeigt sich allein in dem versprachlichten Umstand, dass die europäischen "Partner" oft als "Geber" bezeichnet werden – folglich sind die afrikanischen Gegenüber die "Nehmer". Doch die historische Hintergrundfolie des Zusammenwirkens zwischen Europa und Afrika zeigt ein gegenteiliges Bild. Dem kann sich auch der wissenschaftliche Diskurs nicht verschließen.

"Maafa" – ein Begriff der postkolonialen Perspektive

Über Jahrhunderte hinweg ist der afrikanische Kontinent ausgebeutet, seine Bewohner versklavt, unterdrückt und entmenschlicht worden. Um das Elend von Sklaverei, Massendeportation, Kolonialismus und Rassismus aus einer postkolonialen Perspektive zu verdeutlichen, verwenden manche afrikanische und afrodiasporische Autor*innen den Begriff "Maafa". Dieser Terminus aus dem Swahili bedeutet "Katastrophe" oder "große Tragödie". Wie der hebräische Begriff der Shoah für die Erfahrung des Holocaust aus jüdischer Perspektive steht, so steht Maafa für die genuin afrikanische Sicht auf die historischen Verwerfungen der letzten fünfhundert Jahre, inklusive der vielfältigen Formen des Widerstands gegenüber dem europäischen Sog von Ausbeutung und Zerstörung.

Zu dieser Zerstörung gehörte auch die gezielte Vernichtung kultureller Identität und indigenen Wissens – mit Auswirkungen bis heute. Der Wissenschaftsbetrieb und das Bildungssystem sind in vielen afrikanischen Staaten von der Entäußerung autochthoner Wissenssysteme und der Überformung mit importierten Theorien und Inhalten geprägt. Bei der Zusammenarbeit mit forschenden Individuen und Institutionen in Subsahara-Afrika geht es auch darum, welches Wissen eigentlich zählt und wer die Deutungshoheit darüber hat.

Was ist der Vorteil von "entwickelt?"

Vor Jahren unternahm ich mit einer Gruppe von Sozialarbeitsstudierenden eine Forschungsreise nach Uganda und Tansania. Der Fokus unseres Erkenntnisinteresses lag auf der Situation alter Menschen. In der Stadt Arusha im Norden von Tansania führten wir mit einer Gruppe älterer Frauen und Männer eine Diskussion. Dabei überraschte mich ein älterer Herr mit der Frage: "What is the benefit of being developed?" – Eine gute Frage. Im Zusammenhang mit Afrika wird viel von Entwicklung und Hilfe gesprochen, also "Entwicklungshilfe". Aber kann man jemandem ernsthaft dabei helfen, sich zu entwickeln? Und wenn ja, in welche Richtung? Und welche Kriterien definieren, dass beispielsweise Österreich als ein "entwickeltes" Land gelten kann? Es ist schwierig, der Dichotomie dieses Diskurses zu entkommen: entwickelt vs. unterentwickelt, arm vs. reich, oben vs. unten. Ich versuche meine Studierenden dafür zu sensibilisieren, Afrika nicht als "da unten" zu verorten. Wer weiß schon, wo oben und unten ist? Wer definiert, wer als arm oder reich gilt? Die sogenannte Entwicklungszusammenarbeit, eine euphemistische Nachbesserung der vormaligen Entwicklungshilfe, impliziert immer noch, dass sich zwei treffen, von denen nur einer "entwickelt" ist. Fragt sich nur wer. Für den alten Mann hatte ich leider keine schlüssige Antwort.

Ubuntu – afrikanischer Humanismus

Im letzten Jahr ist Afrika in unterschiedlichem Ausmaß von der Corona-Pandemie heimgesucht worden. Vielen Menschen sind durch wirtschaftliche Einbrüche und drastische gesundheitspolitische Maßnahmen die Lebensgrundlagen entzogen worden. Ein sozialstaatliches Absicherungssystem ist in den meisten Ländern inexistent. Zentrale Ressourcen in der Alltagsbewältigung und im Überlebenskampf der Menschen sind Flexibilität, Gottvertrauen und die Community. Was hilft, sind gegenseitige Unterstützung und solidarisches Handeln.

Neben religiösen Glaubenssystemen gibt es ein quasi panafrikanisches ethisches Regelwerk, welches das Zusammenleben der Menschen grundlegend bestimmt: Ubuntu. Diese auch als "afrikanischer Humanismus" bezeichnete Lebensphilosophie beinhaltet zentrale Tugenden wie Respekt, wechselseitige Fürsorge, Solidarität, Gastfreundschaft und Vergebung. In dieser Tradition sind die Existenz und das Schicksal des Individuums untrennbar mit der sozialen Gemeinschaft verwoben.

Wie die Erfahrung zeigt, sind in einigen afrikanischen Staaten Gewalt und Menschenrechtsverletzungen ebenso Teil der gesellschaftlichen Realität wie die Benachteiligung von Mädchen und Frauen oder die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten. Dennoch bilden die Ubuntu-Prinzipien im Alltagsleben der Menschen einen verlässlichen Referenzrahmen für ein friedliches und harmonisches Zusammenleben. Wie steht es in Europa mit dem gesellschaftlichen Wertekonsens? In einer zunehmend polarisierten Gesellschaft bräuchten wir auch hier ein verlässliches Quantum an Solidarität als ethischen Maßstab für ein respektvolles Miteinander.

In Ostafrika gibt es den Spruch: Wenn man auf Reisen ist, soll man Augen und Ohren aufmachen, aber den Mund halten. Das kann auch als Prinzip für die (wissenschaftliche) Zusammenarbeit zwischen Europa und Afrika gelten: Wenn man genau aufpasst, gibt es von den Menschen in Afrika viel zu lernen.

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