Wie Östrogene das Gehirn verändern
Es gibt wichtige Unterschiede bei der Wirkung von Medikamenten zwischen Männern und Frauen
Alexandra Kautzky-Willer hat seit elf Jahren die erste Professur für Gendermedizin in Österreich inne und gilt als Pionierin in ihrem Fach. Sie ist Leiterin der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel & Gender Medicine Unit und Organisationseinheitsleiterin der Universitätsklinik für Innere Medizin III der MedUni Wien. Die Endokrinologin plädiert für nach Geschlechtern separiert durchgeführte Zulassungsstudien für Medikamente.
Was bedeutet "Gendermedizin" genau?
Alexandra Kautzky-Willer: Es gibt das biologische Geschlecht, mehrheitlich männlich oder weiblich. Gendermedizin impliziert aber auch das soziale Geschlecht. Dabei spielen Bildung, soziales und kulturelles Milieu, Lebensstil etc. eine Rolle. Gendermedizin untersucht beide Bereiche auf Basis der unterschiedlichen Biologie von Mann und Frau. Sozialwissenschaftler*innen kritisieren gern das binäre Geschlechtermodell, auch uns geht es um "Diversity", also um kulturelle Unterschiede und Gruppen mit sozialen Benachteiligungen. Es gibt auch Intersex und Graubereiche, allerdings haben wir für diese Gruppen derzeit keine validen Daten. Um das zu verbessern, sind wir am internationalen Data-Science-Projekt GO-ING-FWD Forward beteiligt, das zur Integration von Sex-und Genderanalysen in die Wissenschaft beitragen wird. Kanadische Kolleg*innen haben einen "Gender Score" entwickelt, denn die Frage ist ja, wie misst man Gender? Das biologische Geschlecht ist messbar, aber wie ist das beim sozialen, einem Konglomerat aus vielen Faktoren? Wir haben mittels Gender Score das Risiko und den Verlauf von kardiovaskulären Erkrankungen untersucht und festgestellt, dass das soziale Geschlecht eine größere Rolle spielt als das biologische. Bei Letzterem sind Frauen klar im Vorteil, weil sie seltener und später erkranken. Aber im Gender-Bereich ist das anders, wenn Faktoren wie Haushaltsgröße, mentale Gesundheit, Stresslevel, Familienstand, Bildungslevel, Haushaltseinkommen etc. eine Rolle spielen, also Charakteristika, die eher mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert werden.
Wie ist das bei Demenz?
Kautzky-Willer: Das ist ein komplexes Thema mit vielen Thesen zum weiblichen Gehirn. Eindeutig ist nur dessen geringere Größe, sonst gibt es keine evidenten geschlechtsspezifischen Unterschiede. Die Unterscheidung der Gehirne zweier Menschen ergibt sicher größere Differenzen, als sich nach geschlechtlichen Kriterien finden lassen. Eine These ist, dass es in weiblichen Gehirnen besonders viele neuronale Kontakte zwischen den Hemisphären gebe, bei Männern dagegen mehr Verknüpfungen innerhalb der Gehirnhälften. Aber das kann man alles auch kritisch hinterfragen. Zugespitzt könnte man sagen, da herrscht gerade Neurofeminismus gegen Neurosexismus. Mich interessieren die Fakten und wie sie sich auf Patient*innen auswirken. Es ist richtig, dass Frauen öfter an Alzheimer erkranken als Männer. Warum, ist aber nicht geklärt. Männer erkranken eher an vaskulärer Demenz und Parkinson, aber es kann auch sein, dass die Symptome bei Männern und Frauen unterschiedlich sind. Möglicherweise werden Frauen aufgrund besserer Gedächtnis-und Verbalisierungsleistungen später diagnostiziert. Wir haben festgestellt, dass Frauen mit Diabetes ein größeres relatives Risiko als Männer haben, Parkinson zu entwickeln. Autismus und ADHS kommen bei Buben und Männern öfter vor, allerdings kann es auch hier sein, dass Mädchen nicht so gut diagnostiziert werden. Ernährungsstörungen, Essstörungen und psychische Erkrankungen betreffen deutlich mehr Mädchen und Frauen, Suchterkrankungen dagegen mehr Männer. Das kann natürlich auch sozial bedingt sein, es ist ein schwieriger Diskurs. Ich persönlich glaube, dass sowohl die Geschlechtschromosomen als auch hormonelle Schwankungen eine Rolle spielen, etwa bei Alzheimer und Depressionen. Das Gehirn ist ein plastisches Organ und wir wissen, dass es sich durch Lernen und Üben verändert. Es gilt beides -der biologische und der sozial determinierte Unterschied.
Frauen leiden mehr an Allergien, stimmt das?
Kautzky-Willer: Interessanterweise erst ab der Pubertät, was zeigt, dass die Sexualhormone einen großen Einfluss haben müssen. Davor zeigen Buben öfter Reaktionen. Aber mit zunehmenden Jahren gleichen Männer und Frauen sich aneinander an, wenn die Sexualhormone keine dominante Rolle mehr spielen. Das Alter macht uns gleich. Das weibliche Immunsystem ist anders, und im Fall von Covid-19 haben Frauen sogar einen Vorteil. Es liegen mehr Männer auf den Intensivstationen, und Männer sterben um dreißig Prozent häufiger als Frauen daran. Testosteron begünstigt die Vermehrung des Enzyms, das den Coronaviren beim Eindringen in die Zellen hilft. Östrogen dagegen unterdrückt seine Vermehrung. Frauen haben wegen der zwei X-Chromosomen und der Sexualhormone ein stärkeres Immunsystem. Sie haben zumeist leichtere Verläufe und bilden besser Antikörper. Doch es gibt auch hier wieder einen Nachteil: Frauen haben öfter überschießende Immunreaktionen, also Autoimmunkrankheiten und etwa auch Nebenwirkungen bei Impfungen
Sie sind seit elf Jahren Professorin für Gendermedizin. Was wurde besser?
Kautzky-Willer: Die Forschung hat an Fahrt aufgenommen, es gibt internationale Kollaborationen, verbesserte Netzwerke, und der Wissenszuwachs ist in allen Fachbereichen groß. Das Ziel ist aber, dass die Patient*innen aufgrund des Wissenszuwachses besser versorgt sind. Es wäre notwendig, alle Erkenntnisse der evidenzbasierten Medizin nochmals nach Geschlechtern getrennt zu überprüfen und zu evaluieren. Das ist nicht möglich, weil eine Erkenntnis auf der anderen aufbaut und dafür große Studien nötig wären, die nicht nochmals gemacht werden können. Aber man muss darauf schauen, dass neue medizinische Erkenntnisse in allen Studien das Geschlecht mitberücksichtigen und dass Frauen und Männer separiert untersucht werden. Das geben auch alle Fördergesellschaften und Arzneimittelbehörden bereits vor. Momentan geht vieles noch eher in die Richtung Gendermainstreaming, was auch wichtig ist, um die Karrieremöglichkeiten für Frauen zu verbessern. Aber es ist ebenso wichtig, die medizinischen Studien auf Sex und Gender hin genau anzuschauen, denn das ist noch nicht Standard. Es darf kein Medikament mehr für Männer und Frauen zugelassen werden, wenn es nicht für Männer und Frauen separiert getestet wurde. In jedem Beipacktext muss beschrieben sein, ob es geschlechtsbasierte Hinweise gibt oder nicht, ebenso für Schwangere, Stillende, prä-und postmenopausale Frauen. Leider beträgt der Frauenanteil in den Zulassungsstudien nur rund dreißig Prozent, was für so häufige Krankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen kontraproduktiv ist. Es müssen mehr Frauen motiviert werden, an Studien teilzunehmen.
Ist die Gendermedizin bereits im Medizinstudium verankert?
Kautzky-Willer: Absolvent*innen sind sensibilisiert und wissen, worum es geht. Wir unterrichten sowohl Gendermainstreaming als auch Gendermedizin. Es gibt Schwerpunktsetzungen wie in meinem Bereich der Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungen, der Kardiologie, und prinzipiell sollte das in jedem Fach vorkommen. Aber natürlich liegt es auch an den Lehrenden, wie weit sie individuell darauf eingehen. Wir haben auch eine Taskforce für Gender und Diversity, denn es geht auch um andere Formen der Diskriminierung, etwa das Alter oder Ethnien betreffend.
Wann wird Gendermedizin in den niedergelassenen Praxen angekommen sein?
Kautzky-Willer: Praxisrelevant ist heute bereits, dass die Symptome eines Herzinfarkts bei Frauen anders sind als bei Männern und schwieriger diagnostizierbar. Oder dass zur Diagnose von Diabetes der Zuckerbelastungstest bei Frauen wichtiger ist als für Männer, weil deren Nüchternblutzucker raschere Hinweise ermöglicht. Auch, dass für Diabetikerinnen das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen höher ist, wissen Ärzt*innen und handeln danach. In fünf Jahren wird noch mehr angekommen sein.