Männern unbekannt: Das Frauengehirn

Mangelnde Forschung beeinträchtigte bislang Erkenntnisse über das Gehirn der Frau

TEXT: BRUNO JASCHKE
vom 26.05.2021

Männer denken ständig an Sex, neigen zur Untreue, können besser einparken, haben ein besseres räumliches Vorstellungsvermögen, sind mathematisch begabter und allzeit bestrebt, sich mit anderen Männern zu messen. Frauen sind empathischer, sprachgewandter, versierter im Multitasking und haben sich besser unter Kontrolle. Sagen herkömmliche Rollenbilder.

Frauen erkranken deutlich häufiger an Demenz, sterben öfter infolge von Schlaganfällen, greifen viel öfter zu Beruhigungsmitteln, leiden häufiger an Migräne, Essstörungen, Depressionen, und unternehmen mehr Suizidversuche als Männer, obwohl dann siebzig Prozent der Toten nach einem Suizidversuch Männer sind. Sie erkranken häufiger als Frauen an Parkinson und Autismus, neigen stärker zu Alkoholund Drogensucht. Sagen die Fakten.

Wissenschaftler versus Wissenschaftlerinnen

Wie viel von dem ist Schicksal, weil genetisch bedingt, was Folge von Sozialisation? "Das menschliche Gehirn strukturiert sich anhand der im Leben eines Menschen gemachten Erfahrungen. Die wichtigsten sind Erfahrungen in der Beziehung zu anderen, diese Sozialisationserfahrungen werden strukturell, ,biologisch' im Gehirn verankert. Die Frage lässt sich also nicht beantworten, weil die individuellen Erfahrungen die biologische Matrix erst formen", sagt der Hirnforscher Gerald Hüther, Vorstand der Akademie für Potenzialentfaltung in Göttingen.

In der Frage, ob Unterschiede im Gebaren von Männern und Frauen genetisch determiniert oder angelernt sind, gleichen die Aussagen der Hirnforschung einer Pendelbewegung. Aktuell scheint es Richtung genetisch determinierter Unterschiede auszuschlagen, obwohl dieser Denkschule aus Sorge, sie könnte alte Rollenklischees zementieren, mit Vorsicht begegnet wird. Andererseits wird argumentiert, dass selbst vermeintlich geringfügige Unterschiede medizinisch relevant sein könnten. Hüther glaubt nicht daran, dass Forschungserkenntnisse die Anfälligkeit von Frauen für psychosomatische Erkrankungen dramatisch senken würden, denn als deren Ursache ortet er die aktuell viel zitierte "toxische Männlichkeit":"Sie würde sich sofort verändern, wenn die Männer nicht ihr Leben damit zubrächten, ständig herumzurammeln, um Anerkennung, Macht und Einfluss zu gewinnen."

Als gesicherter biologischer Unterschied gilt, dass Männer mehrheitlich größere Gehirne als Frauen haben, im Schnitt 1.375 zu 1.245 Gramm, ohne dass dies einen Einfluss auf die Qualität der Gehirnleistung hätte. Aus der unterschiedlichen Gehirngröße hat Ragini Verma, Neurowissenschaftlerin an der University of Pennsylvania, mit ihrem Team 2014 in einer Studie an männlichen und weiblichen Jugendlichen die These abgeleitet, dass bei männlichen Gehirnen eine stärkere Vernetzung innerhalb der zwei Hirnhälften, bei Frauen dagegen ein stärkerer Austausch zwischen den beiden Hälften stattfinde. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass Männer zielgerichteter denken und Frauen stärker im Multitasking seien.

Die Untersuchung fand zunächst große Beachtung und viel Zustimmung, wurde aber bald durch Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich, und seinem Mitarbeiter Jürgen Hänggi infrage gestellt: Sie zeigten, dass der Austausch innerhalb oder zwischen den Hirnhälften keine Frage des Geschlechts sei, sondern einzig von der Größe des Gehirns abhänge. In einem großen Gehirn fände bei Frauen genauso wie bei Männern wegen der größeren Distanzen mehr "regionale" Vernetzung innerhalb der Hemisphären statt.

Wissenschaftlerinnen versus Wissenschaftler

Daphna Joel, Dozentin für Neurowissenschaften und Psychologie an der Universität Tel Aviv, stellt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen infrage. Das Gehirn von Mann wie auch Frau bestehe aus einem Mosaik männlicher und weiblicher Anteile, es gebe durchaus empathiefähige Männer und Frauen mit guter räumlicher Vorstellungskraft und rationaler Veranlagung.

Eine Studie von 2020, die unter der Leitung von Armin Raznahan, Vorstand der Abteilung für Entwicklungsneurogenomik am National Institute of Mental Health in Bethesda, durchgeführt wurde, postuliert hingegen stärkere Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen. Das Forschendenteam analysierte Hirnscans von knapp 1.000 erwachsenen Frauen und Männern und konzentrierte sich dabei auf das Volumen verschiedener Areale der grauen Hirnsubstanz in der Großhirnrinde. Im "Cortex", wie sie im Fachterminus heißt, werden die Signale der Sinnesorgane und vorgeschalteten Hirnregionen verarbeitet; zudem ist er biologische Grundlage unseres Gedächtnisses. In der grauen Hirnsubstanz, die mit Intelligenzleistungen, Motorik und Wahrnehmung in Verbindung gebracht wird, entdeckten die Wissenschaftler*innen stereotype Abweichungen: Bei Frauen ist es in Teilen des präfrontalen Cortex, im darüberliegenden orbitofrontalen Cortex sowie in Teilen des Scheitel-und Schläfenhirns höher. Bei Männern ist die Hirnrinde dagegen im hinteren Teil des Gehirns dicker, darunter auch im primären Sehzentrum. Bezogen auf die Funktionen dieser unterschiedlichen Areale seien bei Männern die Objekterkennung und Verarbeitung von Gesichtern, bei Frauen die Impulskontrolle und Konfliktverarbeitung stärker ausgeprägt.

Mangelnde Forschung an Frauen ein Glück für sie?

Nicht um unterschiedliche Denk-und Verhaltensweisen, sondern allein um die Gehirngesundheit geht es der US-amerikanischen Neurowissenschaftlerin Lisa Mosconi, Direktorin der Alzheimer's Prevention Clinic am Weill Cornell Medical College, die in ihrem Buch "Das weibliche Gehirn" massive Verbesserungen bei der Erforschung des weiblichen Gehirns einfordert. Jahrhundertelang sei Hirnforschung ausschließlich auf Männer zugeschnitten und über den Kamm geschert auch auf Frauen angewandt worden. Gerald Hüther, der sich in seinem Buch "Männer. Das schwache Geschlecht und sein Gehirn" mit der Erforschung des männlichen Gehirns auseinandersetzt, kommentiert dieses Defizit sarkastisch: "Vielleicht war das ja auch ein Glück für die Frauen, angesichts all der fatalen Fehleinschätzungen, die diese Art von Hirnforschung hervorgebracht hat - und die sowohl für Männer wie auch für Frauen gelten sollten und angewandt wurden, aber für beide nicht zutrafen."

Mosconi dagegen sieht in dieser Form von Ignoranz eine Unterdrückung, die nicht einmal den aggressiven Weg einer direkten Attacke geht: "Die Gesundheit des weiblichen Gehirns ist einer der am stärksten vernachlässigten Problembereiche, ein Gebiet, das aufgrund des auf Männer basierenden medizinischen Paradigmas ständig unter den Teppich gekehrt wird. Unter all den Dingen, mit denen eine Frau sich angeblich beschäftigen soll, spielt unser Gehirn seltsamerweise kaum eine Rolle."

Laut Mosconi ist die Alzheimerdemenz zu einer massiven Bedrohung für Frauen geworden. Sie räumt mit der selbst von Mediziner*innen heute noch vertretenen Binsenweisheit auf, das liege hauptsächlich an der höheren Lebenserwartung von Frauen. Neuere populationsbasierte Studien zeigten, dass Männer bei der Lebenserwartung und Frauen bei der Nachahmung ungesunder männlicher Lebensgewohnheiten wie Rauchen aufgeholt haben.

Großes Augenmerk widmet Mosconi der weiblichen Sensibilität gegenüber hormonellen Veränderungen. Denn Hormone seien gewissermaßen der Treibstoff für das Gehirn. Eine kritische Lebensphase nicht nur für das körperliche Wohlbefinden, sondern auch für die Versorgung des Gehirns sind somit die Wechseljahre. Daher geht Mosconi umfassend und differenziert auf Möglichkeiten und Risiken von Hormonersatztherapien ein. Ihr Fokus liegt auf der Vorbeugung. Mindestens ein Drittel aller Alzheimerfälle könnte durch einen gesünderen Lebensstil vermieden werden: Kein Nikotin, Alkohol in Maßen, Bewegung, ausreichend Schlaf, Reduktion von Stress. Und gesunde Ernährung, der die gebürtige Italienerin einen Abschnitt mit überwiegend mediterranen Rezepten widmet.

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