KULTURELLE NEUROWISSENSCHAFT

Wie unsere Kultur unser Gehirn formt

Warum westliche Kulturen so fundamental anders ticken als die meisten anderen Kulturen der Welt

SANDRA TIETSCHER
vom 26.05.2021

"Ihr Gehirn wurde verändert, neurologisch neu vernetzt, weil es eine Fähigkeit erlernt hat, die in unserer Gesellschaft hochgeschätzt wird." So beginnt Joseph Henrich sein neues Buch "The WEIRDest People in the World", in dem der Kulturanthropologe der Frage nachgeht, warum westliche Kulturen so fundamental anders ticken als die meisten anderen Kulturen der Welt. Henrich zufolge, der an der Harvard University in den USA lehrt, sind Menschen im heutigen Europa und Nordamerika im Vergleich zu anderen kontemporären und historischen Kulturkreisen höchst individualistisch, analytisch und kontrollorientiert. Dafür gibt es eine Reihe von Erklärungen.

Aber zunächst zurück zu Ihrem Gehirn. Mit größter Wahrscheinlichkeit gehören auch Sie zur Gruppe Menschen, deren Gehirn verändert wurde. Denn die exotische Fähigkeit, von der Henrich spricht, ist das Lesen. Durch die Entwicklung der Lesefähigkeit hat Ihr Gehirn tiefgreifende strukturelle Änderungen durchlaufen: Ihr Corpus Callosum -die Informationsbrücke zwischen linker und rechter Gehirnhälfte - wurde verstärkt, der Prozess der Gesichtserkennung wurde komplett in die rechte Hirnhälfte verlagert, und Ihre Fähigkeit, Gesichter zu identifizieren, deutlich vermindert. Kurzum: Eine Tätigkeit, die weder direkt an Gene noch an Umwelteinflüsse gekoppelt, aber tief in unserem Kulturkreis verwurzelt ist, hat die neuronalen und kognitiven Prozesse in unseren Köpfen grundlegend verändert.

Die Jahrzehnte hindurch, in denen Neurowissenschaftler*innen meinten, das "menschliche" Gehirn zu studieren, haben sie nur das Gehirn der "lesefähigen Menschen" studiert. Dies, obwohl das Lesen historisch betrachtet eine sehr neue Fähigkeit ist und es nach wie vor eine große Anzahl analphabetischer Menschen auf der Welt gibt -diese schaffen es allerdings selten in die Labors von Neurowissenschaftler*innen.

Die Lesefähigkeit ist ein konkretes Beispiel dafür, wie eine kulturelle Eigenheit physiologische Veränderungen nach sich ziehen kann. Während Henrich in seinem Buch im Detail erklärt, wie diese und andere Veränderungen die Eigenarten verschiedener Kulturen geprägt haben, konnte man bislang nur wenige andere kulturelle Unterschiede derart deutlich mit biologischen Anpassungen im Gehirn in Verbindung bringen. Aus den Bemühungen, dies zu ändern, entstand eine neue Forschungsrichtung: Die kulturelle Neurowissenschaft. Während sie in Europa noch wenig vertreten ist, erfährt sie in Amerika und Asien regen Zulauf.

So untersuchten etwa Forschende der Universität Peking, ob die psychologischen Unterschiede in der Selbstvorstellung westlicher Völker (die ihr Selbst als komplett unabhängig wahrnehmen) und ostasiatischer Völker (deren Ich-Bewusstsein auch nahestehende Personen stärker miteinschließt) neurologisch messbar sind. Tatsächlich wurden bei beiden Gruppen eine höhere Aktivität in einem bestimmten Hirnareal festgestellt, wenn sie über eigene Charaktereigenschaften im Vergleich zu Eigenschaften einer öffentlichen Person nachdachten. Während aber bei amerikanischen und europäischen Studienteilnehmenden dieses Hirnareal auch still blieb, wenn sie über Eigenschaften ihrer eigenen Mutter nachdachten, aktivierten chinesische Teilnehmende beim Nachdenken über ihre Mutter dieselben Areale wie beim Einschätzen ihrer eigenen Eigenschaften. Das Gehirn unterschied bei ihnen kaum zwischen Selbst und nahem Verwandten. Eine andere Studie zeigte, dass japanische Gehirne besser darin sind, die Länge einer Linie relativ zu einer sie umgebenden Box einzuschätzen, während amerikanische Gehirne besser darin sind, die absolute Länge der Linie abzuschätzen. Dies stimmt mit anderen Beobachtungen überein, nach denen Japaner*innen generell mehr kontextorientiert und Amerikaner*innen mehr detailorientiert arbeiten. Auch dies zeigt: Das Gehirn passt sich den jeweiligen kulturellen Anforderungen an.

Basierend auf diesen Erkenntnissen plädieren Henrich und andere Wissenschaftler*innen dafür, kulturellen Aspekten bei der Untersuchung der menschlichen Psyche mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dies könnte nicht nur wissenschaftliche Fehlvorstellungen vermeiden, sondern auch zum besseren Verständnis zwischen verschiedenen kulturellen Gruppen beitragen. Denn auch wenn Japaner*innen und Europäer*innen miteinander über dasselbe Konzept sprechen, so könnten ihre Gehirne dies sehr unterschiedlich interpretieren. Besser, sie wissen darüber Bescheid.

Joseph Henrich, "The WEIRDest People in the World", Macmillan USA, 2020; Zhu et al, NeuroImage 34(3), 2007; Han et al, NeuroImage 99,2014

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