FREIBRIEF

Wahrscheinlich

FLORIAN FREISTETTER
vom 29.09.2021

Wenn ich im Kaffeehaus erwähne, dass es wahrscheinlich sonnig wird, ist das nicht sonderlich interessant, aber zumindest keine schwer zu verstehende Aussage. Wenn aber der Weltklimarat in seinem aktuellen Sachstandsbericht schreibt, dass jedes der Jahre zwischen 2015 und 2020 wahrscheinlich wärmer war als irgendein anderes Jahr seit Beginn der Messungen, ist das nicht nur eine sehr relevante Aussage, sondern auch eine, die man analysieren muss. Das "wahrscheinlich" (im Original "likely") hat in den Sachstandsberichten des Weltklimarates nämlich eine sehr viel spezifischere Bedeutung als in unserer Alltagssprache.

Wird dort das Wort "likely" verwendet, haben zuvor Hunderte Forscher*innen die entsprechenden Daten untersucht, statistisch evaluiert und sind gemeinsam zu dem Schluss gekommen, dass die Aussage mit einer Wahrscheinlichkeit von 66 bis hundert Prozent korrekt ist. Hätte die Bewertung eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 95 Prozent ergeben, würde "extremely likely" im Text stehen, bei weniger als 33 Prozent hätte man "unlikely" verwendet. Es gibt insgesamt zehn entsprechende Begriffe, um Wahrscheinlichkeiten auszudrücken, und dazu noch fünf weitere, die das ebenfalls evaluierte Vertrauen in die den Aussagen zugrundeliegenden Daten beschreiben.

Diese kalibrierte Sprache macht die Berichte des Weltklimarates bedeutend. Dort steht nichts einfach nur so. Jede Aussage basiert auf einem langen Bewertungsprozess und ist das Resultat eines Konsens der gesamten Klimaforschung. Die Wissenschaft spricht hier mit einer Stimme.

Wenn diese Stimme aber auch außerhalb der Forschung gehört werden will, darf sie nicht darauf vertrauen, dass die Öffentlichkeit ihre Sprache ohne Weiteres versteht. Im Alltag stellen wir keine Berechnungen an, wenn wir sagen, dass etwas "wahrscheinlich" ist.

So wertvoll das Wissen über den Zustand unseres Klimas, das der Weltklimarat auf den Tausenden Seiten seines Berichts veröffentlicht hat, auch ist: Wenn man keine Strategie entwickelt, es den Menschen auch verständlich zu machen, wird es nicht helfen. Die Notwendigkeit einer umfassenden Klimabildung der Bevölkerung muss man nicht erst in Zahlen fassen.

MEHR VON FLORIAN FREISTETTER: HTTP://SCIENCEBLOGS. DE/ASTRODICTICUM-SIMPLEX

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