Transdisziplin mit Bürger*innen

Transdisziplin ist eine wichtige Entwicklungsrichtung der Wissenschaften

TEXT: SABINE EDITH BRAUN
vom 01.12.2021

Wenn die gesamte Menschheit an jedem Punkt der Erde betroffen ist: Kann man da noch von Interdisziplinarität sprechen? Oder braucht es dann schon eine Universalwissenschaft? Eigentlich steht dieser Begriff für Philosophie und Theologie. Sind "Pandemiewissenschaft" und "Klimakrisewissenschaft" die neuen Über-Disziplinen? Oder eher "Zeitdruckwissenschaft", quasi Forschung in Echtzeit, mit der akuten Notwendigkeit zur Problemlösung als Antrieb?

Neues Paradigma "Komplex der Nachhaltigkeit"?

"Ich würde das Klima und die Pandemie nicht als zwei Komplexe sehen", sagt Dorothea Born vom ASF Hub am Open Innovation in Science Center der Ludwig Boltzmann Gesellschaft. "Vielmehr handelt es sich um einen großen Komplex der Nachhaltigkeit." Born verweist in diesem Zusammenhang auf die "17 Ziele der Nachhaltigkeit" der UN, die unterschiedliche Bereiche umfassen, von leistbarer und sauberer Energie über Geschlechtergerechtigkeit bis hin zu verantwortungsvoller Konsumation und Produktion. "Es hat ja auch die Klimakrise ihren Beitrag zur Pandemie geleistet", sagt Born. Auch wenn der Virusursprung noch immer nicht zweifelsfrei geklärt ist, so stehe zumindest fest, dass Fledermäuse so wie viele andere Wildtiere durch den zunehmenden Verlust ihrer Lebensräume immer gestresster und dadurch anfälliger für Übertragungen werden.

"Die Coronakrise ist auch Ausdruck des Anthropozäns", sagt Born, "weil sie den menschlichen Einfluss auf den ganzen Planeten widerspiegelt." Auch in das klassische Umweltthema würden viele Themen hineinspielen: Nachhaltigkeit, Leben am Land, Leben am Wasser, Biodiversität, nachhaltige Stadtplanung und vieles mehr. Der Klimaaspekt ist, neben dem Genderaspekt, nicht der einzige Paradigmenwechsel, den die Wissenschaft durchlaufen hat. Neben der so wichtigen Interdisziplinarität sei in den letzten Jahren immer mehr die Transdisziplinarität in den Fokus gerückt: Was das bedeutet, erklärt Dorothea Born so: "Auch die Gesellschaft spricht zur Wissenschaft!" Dies sei vor allem in Bezug auf das Thema Nachhaltigkeit wichtig.

Es stelle sich immer auch die Frage, wie etwas zu einem Thema, zu einem wissenschaftlichen Thema gemacht bzw. "gerahmt" werde - ob etwas als potenziell wissenschaftlich zu lösende "Krise" bezeichnet werde oder als lediglich "moralisches Problem" auf die Bevölkerung abgewälzt werde - Stichwort Umweltschutz und Plastikvermeidung. "Wenn etwas zu einem wissenschaftlichen Thema gemacht worden ist, ermöglicht dies ganz andere Handlungsoptionen", sagt Born. Dies habe nicht zuletzt die Pandemie gezeigt. In Dorothea Borns aktuellem Projekt "Action for Sustainable Future (ASF) Hub" am Open Innovation in Science Center der Ludwig Boltzmann Gesellschaft in Kooperation mit der Universität für angewandte Kunst geht es um nachhaltige Entwicklungsziele. Transdisziplinarität wird dabei neu gedacht: "Die Wissenschaft bindet die Bürger*innen ein -aber wir drehen das um! In die Umsetzung verschiedenster Projekte wird die Wissenschaft eingebunden, damit es evidenzbasiert ist."

Keine Trennung in Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik In diesem Impact-Modell sollen Bürger*-innen als Expert*innen der eigenen Lebenswelt anerkannt werden. Dafür braucht es im Vorfeld Briefings, etwa in Bezug auf die Theorie-bzw. Methodenfindung. Transdisziplinarität in Theorie-und Methodenfindung, im Wissenschaftsprozess selbst, aber auch in der Evaluation sei mittlerweile fast obligatorisch, wenn es etwa um die EU-Förderschiene "Horizon Europe" geht. Grundlagenforschung werde dadurch aber nicht abgeschafft, so Born, diese bleibe vielmehr legitim und wichtig. Aber die gegebene Form von Forschungsförderung zeige im Übrigen auch, dass eine Trennung von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik auf vielen Ebenen nicht mehr funktioniere.

Bekannter ist Transdisziplinarität unter den Begriffen "Crowdsourcing" bzw. "Citizen Science". Was ist überhaupt der Unterschied zwischen den beiden -falls es einen gibt?"Citizen Science ist mehr! Beim Crowdsourcing geht es darum, Arbeit aufzuteilen oder auszulagern, bei Citizen Science geht es um die Einbindung in ein Projekt von Anfang an, also schon bei Forschungsfrage und Forschungsdesign", sagt Daniel Dörler. Er hat 2014 gemeinsam mit Florian Heigl neben seinem Studium an der Universität für Bodenkultur Wien die Website "Österreich forscht" ins Leben gerufen.

Früher nannte man so etwas "Laienforschung", Stichwort: Schmetterlinge zählen, aber Citizen Science klingt zugegebenermaßen besser. "Österreich forscht" war anfangs ein unbezahltes und ungefördertes Freizeitprojekt. "Wir schrieben damals alle möglichen Vereine an, aber auch andere Universitäten", ergänzt Florian Heigl.

Dies erklärt die weite Bandbreite an sowohl abgeschlossenen als auch laufenden Projekten, die auf der Homepage zu finden sind. 2018 erkannte das neue Rektorat an der BOKU Wien das Potenzial der Website, und die beiden erhielten unbefristete Stellen. "Wir hatten Glück -bis dahin haben wir ohne Perspektive gearbeitet", sagt Daniel Dörler.

Wissenschaftliche Mitarbeit, spielerisch leicht gemacht Was kann nun ein "Citizen Scientist" machen? Einige Projekte muten recht spielerisch an, etwa Picture Pile, ein Projekt des International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) in Laxenburg. Das Ziel: globale Landschaftsdatensätze zu verbessern zur Erforschung von Klimawandelschäden, Entwaldung oder Artenvielfalt. Man sortiert dabei Fotos auf dem Smartphone, dem Tablet oder Computer. Zu einem angezeigten Bild wird eine Frage gestellt, z. B.: "Ist Ackerland auf dem Bild sichtbar?" Um die Frage mit Ja oder Nein zu beantworten, wird das Bild nach rechts oder links geschoben. Picture Pile ist ein Teil des 2009 begonnenen Projekts "Geo-Wiki", auch "Novel Data Ecosystems for Sustainability"(NODES). Aktuell sind 15.000 Citizens beteiligt.

Wer lieber selbst draußen forscht, kann beim Projekt "Roadkill" der BOKU mitmachen. Hier soll mit wissenschaftlichen Methoden ein Überblick geschaffen werden, wo welche Tiere im Straßenverkehr überfahren werden und warum. Man erstellt ein "Roadkill"-Konto, dann kann ein totes Tier fotografiert werden. Um welche Tierart es sich handelt, wird ebenso vermerkt wie Funddatum und Standort. Der so entstehende Datensatz soll helfen, die Anzahl von Roadkills zu vermindern.

Bei so viel Engagement: Besteht da nicht die Gefahr der Ausbeutung? "Die Frage nach Bezahlung taucht zwar schon immer wieder auf, aber wir zwingen niemanden zum Arbeiten", sagt Florian Heigl. "Auch die Motivation, warum sich jemand bei einem Projekt beteiligt, ist ganz unterschiedlich." Eines sei aber schon klar: "Wer versucht, Citizens auszubeuten, wird bald keine Citizens mehr haben!"

Kommunikation zwischen Citizen Scientists ist wichtig

Nicht alle Themen eignen sich für Citizen Science, am wenigsten solche, die mit komplizierten oder teuren Apparaturen oder sogar gefährlichen Chemikalien verbunden sind. Eine weitere wichtige Voraussetzung, so Daniel Dörler: "Es muss menschlich passen!" Denn Citizen Science ist auch Zusammenarbeit mit anderen Menschen, und das ist mit sehr viel Kommunikation verbunden. Kommunikation hat aber auch noch eine ganz andere praktische Auswirkung: "Es hält die Datenqualität auf einem hohen Level." Daniel Dörler meint damit, dass bei Unstimmigkeiten nachgefragt werden müsse, ob es sich lediglich um einen Tippfehler handelt oder aber um ein Verständnisproblem.

"Die Beteiligten helfen sich nicht nur untereinander, sondern sie lassen es auch uns wissen, wenn in der App etwas nicht passt oder sonst etwas unklar ist", ergänzt Heigl. "Sie sagen uns, woran sie bestimmte Dinge erkennen -so kann eine App weiterentwickelt und verbessert werden. Denn die Citizens sind zum Teil Menschen, die sich schon jahrzehntelang mit einer bestimmten Sache auseinandersetzen, das ist ein Schatz, den es zu heben gilt."

Mehr aus diesem HEUREKA

12 Wochen FALTER um 2,17 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!