HORT DER WISSENSCHAFT

Atomenergie Nahrungskette und die Katze

MARTIN HAIDINGER
vom 27.04.2022

Der gegenwärtig obwaltende europäische Krieg zwingt einem bisweilen manch älteres Buch in die Hand und vor die Augen. "Blutrituale. Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg"(1997/99) der originellen US-amerikanischen Zellbiologin und Publizistin Barbara Ehrenreich habe ich schon seinerzeit geradezu verschlungen! Apropos verschlungen: Vom Krieg dringt Ehrenreich sehr rasch in profundis vor und widmet sich dem, was in Urzeiten mit unseren fernen Ahnen vorgegangen sein mag, ehe die Hominiden Jagd auf Tiere machten und sich von dem ernährten, was sie sammelten. Da gingen sie noch als potenzielle Beute von Raubtieren durch die Welt und nicht umgekehrt. Die Angst vor dem Verschlungenwerden habe sich tief in unsere menschliche Prägung eingeschrieben.

Dies, und nicht erste die jagdliche Praxis, habe uns zur Teamarbeit gezwungen, wollten wir unsere hilflosen Babys beschützen, die noch heute wie am Spieß schreien, wenn man sie einen Augenblick allein lässt. Erst in jüngster Zeit haben wir die Tierwelt so weit in Griff bekommen, dass wir sie sorglos mittels Teddybären, Katzenvideos und allerlei Comics verniedlichen. Ein Hominide, der sich vor dem Schlund von Pantherinae mit und ohne Säbelzähne höllisch fürchtete, würde wohl unsere schnurrigen Hauskätzchen weit weniger drollig finden als wir.

Nun gibt es keinen Hinweis darauf, dass das Anthropozän, das Zeitalter, in dem der Mensch die Erde überformt, sich dem Ende zuneigt - ganz im Gegenteil. Trotzdem oder gerade deshalb braucht es kluge Köpfe wie den französischen Soziologen und Philosophen Bruno Latour, der heuer seinen 75. Geburtstag feiert. Ich möchte ihn als einen der einflussreichsten, aber auch umstrittensten Denker der Gegenwart bezeichnen. Berühmt wurde er vor allem durch seine Kritik der Neuzeit, die er in seiner Schrift "Wir sind nie modern gewesen" artikulierte. Das Selbstverständnis der Moderne, nach dem wissenschaftliche Wahrheit, Technik und eine funktionierende Ökonomie Garanten des Fortschritts seien, führe auf Dauer in eine gefährliche Sackgasse, ebenso die Trennung von Mensch und Natur, wie er in seinem 2017 veröffentlichten Buch "Das terrestrische Manifest" zusammenfasste.

Der Wissenschaftsjournalist Michael Reitz wird ihm am 22. Juni 2022 im "Salzburger Nachtstudio" auf Ö1 ein Porträt widmen. Lauschen Sie, streicheln Sie dabei Ihren Stubentiger und seien Sie demütig bei dem Gedanken, dass Ihre Urahnen und Minkas Vorfahren in der Nahrungskette einst andere Rollen eingenommen haben

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