Ganzheitlich
vom 27.04.2022
"Ganzheitlich" ist ein Wort, das überraschend oft verwendet wird, um sich abzugrenzen. Insbesondere von der Wissenschaft: Wenn etwa eine "alternative" Pseudomedizin wie Homöopathie hervorstellen möchte, dass sie viel besser sei als wissenschaftsbasierte Behandlungsmethoden, nennt sie sich "ganzheitlich" und behauptet, Wissenschaft sei das nicht. In Wahrheit ist das aber nur ein PR-Trick der Esoterik, denn wenn etwas mit Sicherheit ganzheitlich ist, dann die Wissenschaft. Dort hängt, in einer völlig nicht esoterischen Weise, tatsächlich alles mit allem zusammen.
Die selben wissenschaftlichen Prinzipien und Grundlagen, die unsere Computer und Handys funktionieren lassen, sagen uns zum Beispiel auch, dass wir so gut wie keine Zeit mehr haben, um die Auswirkungen der Klimakrise zu begrenzen. Wer Aspirin gegen Kopfschmerzen nimmt, profitiert von derselben Wissenschaft, die wirksame Impfungen gegen das Coronavirus entwickelt hat. Die Naturwissenschaft beschreibt ein und dieselbe Welt, und sie lässt sich zwar formal in scheinbar voneinander abgrenzbare Bereiche aufteilen, in der Praxis aber nicht.
Wer nun behauptet, die Erde wäre keine Kugel, stellt damit zwangsläufig auch die komplette übrige Wissenschaft in Frage. Wäre die Erde eine Scheibe, dann wäre auch unsere Vorstellung von Gravitation falsch. Ebenso wie die Theorien zur Beschreibung der Kräfte, die Materie zusammenhalten. Was wiederum Auswirkungen auf Biologie, Chemie und Medizin _ hätte. Überspitzt kann man sagen: Weil ein Computer funktioniert, kann die Erde keine Scheibe sein. Oder andersherum: Wer behauptet, die Erde wäre eine Scheibe, sollte gleichzeitig auch eine Theorie parat haben, mit der sich die komplette Naturwissenschaft entsprechend neu formulieren lässt.
Diese Ganzheitlichkeit der Wissenschaft wird in der Kommunikation und der politischen Gestaltung von Forschung und Lehre zu wenig berücksichtigt. Die Folge sind Menschen, die einzelne Aspekte aus der Wissenschaft vehement ablehnen, wie Impfungen oder die Klimakrise, doch nie auf die Idee kämen, andere Aspekte wie Computer oder Flugzeuge in Frage zu stellen. Das fehlende Verständnis der Ganzheitlichkeit steht am Anfang jeder Wissenschaftsskepsis.
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