Wir werden anders essen müssen

Wie in mittlerer Zukunft mehr Menschen ernährt werden können

TEXT: BRUNO JASCHKE
vom 27.04.2022

Nicht nur ethisch und humanitär ist Russlands Angriffskrieg in der Ukraine eine Katastrophe. Er trifft auch die Welt an vitalen Punkten. Zu deren gravierendsten gehört die Lebensmittelversorgung. Russland und die Ukraine liefern gemeinsam fast ein Drittel des weltweit gehandelten Weizens. 2020 war Russland mit 37,3 Millionen Tonnen der weltgrößte Weizenexporteur, die Ukraine mit 18,1 der fünftgrößte. Länder, die Probleme haben, ihre Bevölkerung ausreichend zu ernähren, wie Indonesien, Ägypten, die Philippinen oder Brasilien, sind auf diese Exporte angewiesen.

Besonders dramatisch wirken die Folgen des Kriegs auf die globale Landwirtschaft: Russland ist der weltgrößte Exporteur von Stickstoffdünger und der zweitgrößte Produzent von Kalium-und Phosphordünger. Nun sind die Exporte gedrosselt worden und die Preise für Dünger gestiegen.

Diese Entwicklung hat bereits vor dem Krieg durch stark gestiegene Preise für Erdgas begonnen. Es kommt bei der Produktion von Düngern in großen Mengen zum Einsatz. Russland war wegen seiner großen Erdgasvorkommen in der Lage, billigen Dünger zu liefern. Durch die Sanktionen fehlt dieser nun am Weltmarkt.

Das trifft neuerlich Brasilien. Es importiert 84 Prozent seiner Düngemittel, was wiederum Folgen für die ganze Welt hat. Brasilien ist einer der wichtigsten landwirtschaftlichen Produzenten, bei Soja, das vor allem in der Massentierhaltung als Futter verwendet wird, der weltgrößte. Muss das Land seine Produktion infolge Düngermangels zurückfahren, sind kleinere Ernten und steigende Lebensmittelpreise die Folge. Die Lebensmittelproduktion ist ein komplexes Bedingungsgefüge mit nervösem Sensorium für Verwerfungen aller Art.

Über zwei Milliarden Menschen sind mangelhaft ernährt

"Die Weltbevölkerung wächst, vor allem aber wächst der Wohlstand in asiatischen und afrikanischen Ländern, die in der Folge in ihren Ernährungsgewohnheiten häufig ,verwestlichen'", sagt Martin Wagner, wissenschaftlicher Leiter des Österreichischen Kompetenzzentrums für Futter-und Lebensmittelsicherheit und Leiter der Abteilung für Lebensmittelmikrobiologie an der VetmedUni Wien. "Durch den hohen Verbrauch an tierischen Proteinen in entwickelten Ländern geraten die Produktionssysteme kontinuierlich unter Druck. Aufkommende Tier-und Nutzpflanzenseuchen, aber auch die zunehmende Anzahl von Konflikten und Kriegen wirken auf das System schlagartig disruptiv."

Derzeit leben auf der Erde annähernd acht Milliarden Menschen. Von ihnen ist mehr als ein Zehntel chronisch mit Nahrung unterversorgt: Auf ungefähr 811 Millionen wird die Zahl der Menschen, die dauerhaft Hunger leiden, geschätzt (siehe Seite 10). Über zwei Milliarden Menschen leiden an Mangelernährung. Fast ebenso viele, 1,9 Milliarden, laborieren demgegenüber an Übergewicht und krankhafter Fettleibigkeit.

Nahrung, um die ganze Welt satt zu machen, ist genug da. Auch noch 2050, wenn die Weltbevölkerung Prognosen zufolge auf neun Milliarden Menschen angewachsen sein wird. Voraussetzung dafür ist freilich, dass Essen gerechter verteilt und der bedenkenlosen Ausbeutung von Nahrungsressourcen Einhalt geboten wird.

Menschen werden ihre Ernährung umzustellen haben. Die Landwirtschaft muss auf schonendere Produktionsmethoden umsteigen: Diese zwei Voraussetzungen sind für den Mainstream an Nahrungsexpert*innen essenziell, um die wachsende Weltbevölkerung flächendeckend mit Essen zu versorgen.

Außerdem wird als unabdingbar erachtet, den Fleischverzehr zu reduzieren (siehe Seite 12). Abgesehen von ethischen Aspekten der Massentierhaltung verschleißt die Fleischproduktion viele pflanzliche Nahrungsmittel für Tierfutter. Nur gut die Hälfte aller weltweit produzierten pflanzlichen Kalorien wird vom Menschen (direkt) verbraucht, mehr als ein Drittel dient als Tierfutter. Rund ein Zehntel wird zu Kraftstoff und Industrieprodukten verarbeitet. Über drei Viertel der globalen landwirtschaftlichen Nutzfläche dienen der Tierhaltung.

Rein vegane Ernährung ist auch keine Lösung

Eine Fleischproduktion, für die kein Tier in engen Boxen gehalten und getötet wurde, ist möglich (siehe Seite 9). Für künstlich erzeugtes Fleisch, 2013 vom Maastrichter Physiologieprofessor Mark Post in Form eines "Labor-Burgers" erstmals öffentlich präsentiert, werden einem Tier Stammzellen entnommen, die sich in Zellkultur vermehren. Auch das geschmacksbildende Fettgewebe lässt sich in Labors züchten. "Anzumerken ist hierbei, dass es für Kunstfleisch auch hochwertiges ,Futter' wie etwa Glucose oder Aminosäuren braucht", sagt Katrin Fischer, Ernährungswissenschaftlerin der Wissensplattform esserwissen.at. Noch sind für In-vitro-Fleisch die Produktionskosten zu hoch, um es zur Marktreife zu bringen. Längst im Geschäft sind dagegen Fleischimitate und vegane Nahrungsmittel ohne tierische Bestandteile.

Eine rein vegane Lebensmittelproduktion wäre allerdings auch keine Lösung: Ein Kilo veganes Lebensmittel erzeugt mindestens vier Kilo Biomasse, die der Mensch nicht essen kann. "Durch den Verzicht auf die Verfütterung der Biomasse entsteht ein Verlust an Nahrung, der größer ist als die vegane Produktion selbst", erklärt Fischer und gibt zu bedenken: "Nutztiere fördern die Pflanzenproduktion und erzeugen zusätzlich Lebensmittel. Denn Wiederkäuer können Milch und Fleisch ohne Nahrungskonkurrenz zum Menschen erzeugen."

Die Landwirtschaft verursacht mehr Treibhausgase als der motorisierte Verkehr. Ihrem schier endlosen Bedarf an Weide-und Ackerland fallen Wälder, Grünflächen und Lebensräume zum Opfer. Sie ist der größte Verbraucher von Süßwasser, ihre Abflüsse von Kunstdünger und Gülle verpesten Gewässer und Ökosysteme (siehe Seite 7). Die Landwirtschaft bedarf zu ihrem Funktionieren eines hohen Verschleißes an Arbeitskraft, Technologie, Rohstoffen und Naturraum.

"Vor allem die Urproduktion von Milch und Fleisch, aber auch die Rohstoffverarbeitung und die Produktion der boomenden Ersatzprodukte sind arbeits-wie auch ressourcenintensiv", sagt Martin Wagner. "Sowohl die bäuerliche Seite wie auch die Rohstoffverarbeiter ringen um Ressourcen, Boden, Wasser und Produktionshilfsmittel. Die immer stärkeren Konsequenzen des Klimawandels stressen zusätzlich das Produktionssystem, führen zu Ernteeinbußen, stressen Nutztiere und bringen neue Pflanzen-und Tierkrankheiten. Lösungsvorschläge sind häufig interessensgetrieben und bilden die Komplexität des Lebensmittelherstellungssystems nicht ab."

Fünf Punkte zur Besserung, aber nichts geschieht

2014 hat der renommierte Umweltwissenschaftler Jonathan Foley, Direktor des Instituts für Umwelt und Professor für Fragen globaler Nachhaltigkeit an der Universität St. Paul, Minnesota, im Magazin National Geographic fünf Punkte formuliert, wie mehr Nahrung geschaffen werden und gleichzeitig Schaden durch die Landwirtschaft vermindert werden kann. Eine Umstellung der Ernährung ist darin ebenso vorgesehen wie ein sofortiger Stopp des zusätzlichen Flächenverbrauchs durch die Landwirtschaft. Erträge bestehender Betriebe sollen durch verbesserte Anbaupraktiken und ökologische Verfahren gesteigert, Wasser und Dünger effizienter genutzt werden. Der Verschwendung von Lebensmitten ist Einhalt zu gebieten.

Keine dieser Agenden ist bisher auch nur ansatzweise realisiert worden: Nach wie vor werden Regenwälder abgeholzt, um Flächen für den Anbau von Tiernahrung, Palmölplantagen oder Biosprit zu gewinnen. Um die Landwirtschaft effizienter zu gestalten, fehlen gerade bedürftigen Regionen Know-how und Mittel. Von einer Umstellung der Ernährungsgewohnheiten ist global nichts zu bemerken: Während der Fleischkonsum, der sich weltweit in den letzten zwanzig Jahren mehr als verdoppelt hat, in Westeuropa eine minimal rückläufige Tendenz zeigt, steigt er in vielen Schwellenländern signifikant an. Über vier der fünf Punkte herrscht Uneinigkeit unter Expert*innen, sie tragen oft erbitterte Auseinandersetzungen darüber aus. Doch beim Thema Verschwendung gibt es keine zwei Meinungen. Verschwendung wird von allen verurteilt. Nur kaum etwas dagegen getan.

"Eine kritische Haltung von oft sehr engagierten Konsument*innen setzt vor allem tierische Verarbeitungssysteme und somit die landwirtschaftlichen Traditionen unter Druck", konstatiert Wagner. "Die viel näherliegende Konsequenz, die Produktionssysteme ebenso wie die eigene Geldbörse durch die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung zu entlasten, trifft interessanterweise auf lahme Resonanz. Wahrscheinlich, weil die Versorgung mit preiswerten Lebensmitteln als unabänderliche Konstante wahrgenommen wird. Konsument*innen sind sich oft ihrer Rolle als Mitverursachende der Problematik nicht bewusst oder ignorieren sie selbst betreffende Konsequenzen."

Wegwerfen von Lebensmitteln macht alles schlimmer

Weltweit wird ein Drittel aller Lebensmittel nicht verzehrt, sondern weggeworfen. Österreich vernichtet jährlich über eine Million Tonnen an Lebensmitteln, die zum Zeitpunkt ihrer Entsorgung noch uneingeschränkt genießbar sind oder es bei rechtzeitiger Verwendung gewesen wären. Mehr als die Hälfte der Abfälle, nämlich 521.000 Tonnen, wird von den Haushalten verursacht. 175.000 Tonnen Lebensmittelabfall produziert die Außer-Haus-Verpflegung durch Gastronomie, Beherbergung, Großküchen etc., 167.000 Tonnen werden der Landwirtschaft zugerechnet. Allerdings ist hier die Datenlage lückenhaft, wie die BOKU Wien in dieser Aufstellung einräumt. 121.800 Tonnen Wegwerfware entstehen in der Produktion, 89.500 gehen auf das Konto des Handels.

Viele Initiativen sind in den letzten Jahren gestartet worden, um die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. Das Unternehmen "Unverschwendet" verarbeitet Kräuter, Obst und Gemüse für Mistkübel zu Chutneys, Marmeladen, Aufstrichen, Sirup oder Senf. Über Foodsharing werden Lebensmittel aus der Gastronomie umverteilt, bei TooGoodToGo übrig gebliebene Produkte von Bäckereien, Handel und Gastronomie über eine App zu vergünstigten Preisen angeboten. Längst etabliert sind Organisationen wie die Wiener Tafel als Empfänger und Verteiler von Lebensmittelspenden.

"Dennoch ist", sagt Gudrun Obersteiner vom Institut für Abfallwirtschaft an der BOKU Wien, "zumindest in den Haushalten die Tendenz zu Lebensmittelverschwendung eher steigend. Der Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums und zu große Portionen, mit deren Resten man nichts anzufangen weiß, gehören zu den häufigsten Ursachen, warum im privaten Bereich Lebensmittel weggeworfen werden." Zugrunde liegen schlechte Planung beim Einkaufen, falsche Lagerung und generell mangelndes Wissen über Produkte.

"Immer wieder hören wir: Ich schmeiß' nichts weg", erzählt Obersteiner. "Oder wenn, dann nur schimmliges Brot, das kann man ja nicht mehr essen. Das Bewusstsein fehlt, dass das Brot ja im Vorfeld gegessen oder eingefroren oder einfach weniger davon gekauft hätte werden sollen. Es herrscht große Verunsicherung darüber, was noch genießbar ist und was nicht. Ist jede kleine braune Stelle schon als Schimmel zu werten? Ist ein Joghurt nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums giftig? Viele Menschen handeln hier ,auf Nummer sicher' und entscheiden sich für die Entsorgung. Zusätzlich sind die Kenntnisse über Haltbarmachung verloren gegangen."

Es bedarf einer Bildungsoffensive zum Thema Lebensmittel: "Heutzutage ist man zwar in der Lage, ein spezielles Rezept von einem Fernsehkoch nachzumachen, Ideen für die Reste fehlen jedoch ebenso wie Kenntnisse über die richtige Lagerung. So ist den meisten Menschen nicht bewusst, dass sich fast jedes Obst und Gemüse im Kühlschrank und in der Originalverpackung viel länger hält als in der Obstschale."

Wissensvermittlung propagiert auch Katrin Fischer für einen sorgsamen Umgang mit Lebensmitteln: "Ernährungsbildung sollte im Schulbereich etabliert und die Sinnhaftigkeit eines Kochunterrichts erkannt werden. Denn wer selbst zubereitet, weiß, was er isst, und hat in Sachen Lebensmittelherkunft die Wahl."

Wie aber könnte eine über bloße Appelle hinausgehende Änderung der Ernährungsgewohnheiten angestoßen werden?"Verpflichtende Herkunftskennzeichnung bei tierischen Produkten in der Gastronomie und bei allen Produkten im Lebensmittelhandel! Förderungen für Innovationen in der Lebensmittelproduktion. Verbot für Mengenrabatte auf Fleisch. In der Gemeinschaftsverpflegung sollte das Angebot an Fleischspeisen reduziert werden, und dafür sollte qualitativ hochwertiges Fleisch gekauft werden. Regionalen Produkten den Vorzug geben und den Bioanteil erheblich erhöhen", sagt die Ernährungswissenschaftlerin.

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