: GEDICHT

MICHAEL KRÜGER: OSTERSAMSTAG 2022

vom 18.05.2022

In der Frühe war die Luft über dem See so klar, dass die Welt sich mühelos verdoppelte. Ein Fisch zeigte mir mit einem gewaltigen Sprung, wo die Grenze lag, und die Katze des Nachbarn schaute ungläubig ihr Spiegelbild an. Als ich das Haus verliess, sah ich einen Kranz Federn auf dem Weg, so sorgfältig ausgelegt, als hätte man ein Opfer zelebriert, wenig Blut an den dürren Kielen, gerade genug, um Fledermäuse und Käfer zu warnen. Ein Bienenfresser? Ich war mir nicht sicher. Am Fuss der kranken Linde hatte ich einen Stein vor das Loch einer Wühlmaus gewälzt, der lag jetzt verloren im Gras, wie hingeworfen. Die überlebenden Vögel sind fleissig an der Arbeit. Was sie in den Himmel schreiben, ähnelt den Vorzeichnungen, wie Maler und Bildhauer sie auf den Särgen anbringen von anonymen Toten, es wimmelt von Fehlern, sorgfältig sind sie nicht. Es fällt schwer, ein barbarisches Imperium in Worten vernünftig erscheinen zu lassen, es geht um Endkampf. Christus ist auferstanden, und der Himmel schweigt.

Michael Krüger (Jg. 1943), deutscher Dichter, Verleger und Übersetzer, veröffentlichte seit seinem ersten 1976 zwanzig Gedichtbände; zuletzt "Mein Europa. Gedichte aus dem Tagebuch", Haymon, Innsbruck 2019; "Im Wald, im Holzhaus. Gedichte", Suhrkamp, Berlin 2021. Das hier abgedruckte Gedicht ist ein Originalbeitrag.

AUS: MICHAEL KRÜGER: OSTERSAMSTAG 2022

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