SOZIOLOGIE

Wohnraum oder Arbeitsraum?

Ein architektursoziologisches Projekt zur Sanierung von Wiener Wohnhausanlagen

SABINE EDITH BRAUN
vom 28.09.2022

"Wir wollen die Wissenschaft nicht von der Praxis trennen", sagt Daniele Karasz, Gründer und Leiter des Wiener Forschungsinstituts "Search and Shape". Das zeigt er an einem transdisziplinären Forschungsprojekt namens "Labour@Home -Kleine Eingriffe für das digitale Arbeiten zu Hause". Dabei geht es um die generelle Frage, wie Wohnraum in großen Wiener Wohnhausanlagen genützt werden kann. Hierbei spielen mehrere Faktoren zusammen, wie der Sozialwissenschaftler erklärt: "Was kann heute über das übliche Verständnis hinaus als Arbeit verstanden werden? Welche Rolle spielen digitale Medien dabei? Welche räumlichen Konsequenzen haben diese Arbeitsabläufe in Wohnungen und Wohnhausanlage? Und wie kann mit kleinen, günstigen Eingriffen reagiert werden?"

Was bedeutet Arbeiten in der Wohnung heute? Gefördert wird das Projekt vom Digitalisierungsfonds Arbeit 4.0 der AK Wien, Projektpartner bzw. Projektpartnerin sind der Architekt und Architekturtheoretiker Andreas Rumpfhuber sowie Niloufar Tajeri, ebenfalls Architektin und Architekturtheoretikerin. Als Kooperationspartner fungieren der österreichische Verband Gemeinnütziger Bauvereinigungen (GBV), Wiener Wohnen und das Österreichische Siedlungswerk (ÖSW). Die Bauträger haben die Kontakte für die rund fünfzig qualitativen ethnografischen und biografischen Interviews vermittelt, die im Zuge des Projekts in den Wohnungen geführt wurden. Etwa die Hälfte der Befragten hatte Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Türkisch oder Afghanisch als Muttersprache. Die Berufe reichten vom Kleinunternehmer über die Putzkraft, das Alter zwischen Teenager und über Achtzigjährigem.

Die Wohnbauten stammen aus der Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jahre. "Das ist Wohnsubstanz, die jetzt saniert werden muss. Dabei soll es nicht bloß um Dämmung gehen, es sollen auch soziale und Arbeitsaspekte berücksichtigt werden", sagt Daniele Karasz. Seine Hypothese: In der Arbeitswelt hat eine Entgrenzung stattgefunden -was bedeutet dies für Arbeit heute. "Dazu genügt es nicht mehr, in Büros oder Fabriken zu gehen, wir müssen im Haushalt beginnen -das ist auch unser Bezug zur feministischen Ökonomie."

Wer muss mit seiner Tätigkeit ausweichen?

Die Interviews erbrachten eine Liste von Tätigkeiten, die in der Wohnung erledigt werden: Lernen, einen Deutschkurs machen, Haushaltsarbeit, aber auch Lohnarbeit. "Im Haushalt wird Lohnarbeit nicht immer so hierarchisiert wie im öffentlichen Diskurs", sagt Karasz. Ein Beispiel: Wenn es in der Wohnung nur einen PC gibt, an dem das Kind Homeschooling macht und die Mutter gleichzeitig einen AMS-Kurs belegt -wer muss ausweichen? Nicht unbedingt das Kind. Das zeigt ein Beispiel, in dem sämtliche Tätigkeiten im Haushalt dem Gymnasiumsbesuch des Sohnes untergeordnet wurden. Eine andere Familie mit einer Wohnung aus zwei Zimmern erklärte einen Raum zum "lauten", den zweiten zum "stillen". Hier stehen die Schreibtische, PCs und die Betten.

Eingriffe zur Arbeitseinrichtung reichen von der Schallisolierung bis zum Aufstellen von Wänden -was eigentlich nicht erlaubt ist. Aus den Skizzen der Wohnungen, die während der Interviews angefertigt wurden, wird nun ein Katalog erstellt, der dazu beitragen soll, im Zuge der Sanierung Freiflächen in den Wohnungen zu schaffen, die frei von Konflikten bleiben.

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