TITELTHEMA

Friede ist eine Pause dazwischen

Die Folgen von Kriegen und Katastrophen prägen Menschen noch lange, nachdem das Ereignis selbst der Vergangenheit anheimgefallen ist, sagt die Historikerin Barbara Stelzl-Marx

INTERVIEW ERICH KLEIN
vom 05.07.2023

Barbara Stelzl-Marx ist Universitätsprofessorin für europäische Zeitgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz und Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung. 2020 wurde sie als "Wissenschafterin des Jahres" ausgezeichnet. Aktuell leitet sie u. a. Forschungsprojekte zum "Lebensbornheim Wienerwald", zu tschechoslowakischen Nachrichtendiensten in Österreich, Nachkriegslagern in der sowjetischen Besatzungszone und zur Polizei in Österreich im Nationalsozialismus. Jüngste Publikationen: "Children Born of War. Past Present Future" (hg. mit Sabine Lee und Heide Glaesmer),"The Red Army in Austria. Soviet Occupation, 1945-1955" (hg. mit Stefan Karner).

Frau Stelzl-Marx, was ist unter Krisen und Katastrophen im historischen Kontext zu verstehen?

Barbara Stelzl-Marx: Krisen und Katastrophen sind ein integraler Bestandteil der menschlichen Geschichte. Ich würde zwei Kategorien unterscheiden: zum einen Naturkatastrophen wie Vulkanausbrüche, Erdbeben, Überschwemmungen, Dürre, im weitesten Sinne auch, was man im Mittelalter als "Plagen" bezeichnete, sowie Epidemien und Schädlingsbefall. Andererseits gibt es menschengemachte Krisen und Katastrophen wie den Untergang der Titanic, die Oktoberrevolution, die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 oder die Zerstörung des Kachowka-Staudammes in der Ukraine. Und natürlich bewaffnete Konflikte sowie Kriege, die großen Zäsuren darstellen, die man als Zeitenwenden bezeichnen kann. Diesem Thema wird sich der Zeitgeschichtetag in Graz im nächsten Jahr unter dem Titel "Zeitenwenden -Wendezeiten?" widmen.

Sie haben sich mit dem Zweiten Weltkrieg und Russland beschäftigt. Wie sehr überlagert Russlands Angriffskrieg in der Ukraine unser Bild des Zweiten Weltkriegs?

Stelzl-Marx: Eine ukrainische Schriftstellerin meinte kürzlich: "Friede ist nicht immer Friede. War der Friede 1945 tatsächlich ein Friede, wenn die Hälfte Europas aufgeteilt wurde? Es war eine Pause. Friede war immer eine Pause dazwischen." Sie sagte auch, der aktuelle Krieg sei immer schrecklicher als jener, der zuvor stattfand. Wenn man sich in der Situation eines Krieges befindet, ist subjektiv das, was gerade jetzt passiert, viel realer und krisenhafter als etwas, das Jahrzehnte zurückliegt. Man darf dabei aber auch nicht vergessen, dass die Folgen etwa des Zweiten Weltkriegs oder die Folgen der totalitären Regime unter Hitler und Stalin in die jeweiligen Landschaften und in die Biografien der Menschen eingebrannt sind, über Jahrzehnte hinweg. Wichtig ist auch folgendes Moment: Putin instrumentalisiert den Sieg Stalins über Hitlerdeutschland 1945 für die aktuelle Propaganda, um den Krieg gegen die Ukraine, der in den russischen Medien nicht einmal als Krieg bezeichnet werden darf, zu rechtfertigen. Dazu kommt noch, dass der "Tag des Sieges", der 9. Mai, bis heute zumindest in der Russischen Föderation so etwas wie nationaler Kitt ist. Ein Ereignis, das für die Identitätsstiftung wichtig war und ist und worauf man von russischer Seite stolz sein konnte. Zur Rechtfertigung des aktuellen Krieges werden Bilder und Symbole verwendet, die in der russischen Gesellschaft tief verankert sind.

Was denken Sie über einen Ausdruck wie "Last der Geschichte"?

Stelzl-Marx: Vielleicht ist der Ausdruck "Erbe" besser, oder "schweres Erbe". Das zeigt uns, dass Geschichte nicht etwas ist, das abgeschlossen ist, weil es in der Vergangenheit liegt, sondern dass Geschichte in den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft und des Lebens nachwirkt. Sehr deutlich ist dies etwa bei einem der Schwerpunkte meiner Forschung, einem spezifischen Bereich der Kriegsfolgenforschung, zu sehen, den Kindern des Krieges. Der Zweite Weltkrieg hat vor bald achtzig Jahren geendet, aber die Folgen sind bis heute in vielen Bereichen spürbar, oft auch unsichtbar. Nur weil man etwas nicht sieht, bedeutet das nicht, dass es nichts mit den Menschen macht. Um zu den Besatzungskindern zu kommen: Sie wurden in der Folge des Zweiten Weltkriegs zwischen 1945 und 1955 geboren und wurden oft über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg diskriminiert und stigmatisiert. Das hat diese Menschen und auch die nachfolgenden Generationen geprägt - wie generell Kinder des Krieges.

Können Sie das Beispiel einer Person nennen, das Sie bei Ihren Forschungen erstaunt hat?

Stelzl-Marx: Ad hoc fällt mir dazu die Geschichte einer Frau ein, die genau zu Silvester 1945 in der Steiermark als Folge einer Vergewaltigung durch einen Rotarmisten geboren wurde. Sie wurde in ihrer dörflichen Gemeinschaft schwer diskriminiert und stigmatisiert, auch innerhalb ihrer Familie. Als ihr Stiefvater aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, wurde sie zu einer Pflegefamilie gegeben. Mich hat sehr berührt, was mir diese Frau vor einigen Jahren schrieb. Ich weiß das auswendig, weil es so einprägsam war. Sie schrieb in ihrem Brief: "Mein Geburtsdatum sagt Ihnen alles. Ich bin ein Kind des Feindes und habe eigentlich kein Recht zu leben". Diese Frau war damals auf der Suche nach ihrem leiblichen Vater, nicht um irgendwie Rache zu üben, sondern einfach weil es ein Grundbedürfnis des Menschen ist, zu wissen: Wo sind die Wurzeln und wo kommt man her? Diese Zeitzeugin ist für mich ein Beispiel, an dem man sieht, wie eine äußerst schwierige Startsituation und eine krisenhafte Geschichte das weitere Leben sehr geprägt haben. Wobei das nicht notwendigerweise bedeuten muss, dass diese Menschen nicht ein durchaus geglücktes und erfülltes Leben führen können.

Kommen wir zu aktuellen Krisen und Katastrophen -zu Corona.

Stelzl-Marx: Ich habe in "Der Mensch erscheint im Holozän", einem Spätwerk von Max Frisch aus 1979, ein bemerkenswertes Zitat gefunden: "Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt. Die Natur kennt keine Katastrophen." Das bedeutet, dass die Geschichte von Katastrophen, auch jene von Naturkatastrophen, nur über die Geschichte der Wahrnehmung, der Deutung und der Erinnerung durch die Menschen überhaupt verstanden werden kann. Dabei handelt es sich um eine Kombination eines Naturereignisses mit der Wahrnehmung eines materiellen und persönlichen Schadens. Am Grazer Dom gibt es ein berühmtes Fresko aus dem Mittelalter: das sogenannte Gottesplagenbild oder Landplagenbild. Es wurde von Grazer Bürgern gestiftet, weil innerhalb kürzester Zeit gleich mehrere Katastrophen zusammengetroffen waren: der Einfall der Türken, es gab die Pest und eine Heuschreckenplage. Diese Anhäufung von Katastrophen wurde von den Bürgern als Strafe Gottes aufgefasst, und man hoffte mit diesem Bild auf Gottes Gnade. Dieser irrationale Zugang im Umgang mit Katastrophen wie der Pest hat wesentlich zur Krise geführt. Häufig kam es in solchen Situationen auch zu "Erklärungen" und vor allem Schuldzuweisungen, insbesondere an Jüdinnen und Juden, die etwa als "Brunnenvergifter" diffamiert wurden. Das ist etwas, was man jetzt auch während der Coronakrise wieder gesehen hat: Es kam neben irrationalen Erklärungen und Verhaltensweisen auch zu einem Ansteigen von Antisemitismus.

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