Die marxistische Koalition

Armin Thurnher
Versendet am 03.01.2020

ich schon wieder. Kann aber nichts dafür, hat mit den Koalitionsgesprächen und dem Jahresanfang zu tun. Kurz & Kogler, diese beiden Boys from the Winterpalace waren schneller als die Redaktionsplanung es erlaubte. Gerade hatten wir Urlaube satt gebucht, es schlug noch die Grippe zu, da fetzten die Boys ein 300-seitiges Regierungsprogramm heraus. Und die Politredaktion saß stumm und dezimiert um den wegen Umbauarbeiten mit Kabeln und Bildschirmen vollgeräumten Tisch herum.

Jetzt ging’s ans Planen und Einschätzen. Sie wollen ja was Vernünftiges über die Regierungsverhandlungen lesen, am liebsten etwas, das sie nicht schon in einer der zahlreichen TV-Quatschrunden gehört haben. Und das Maily schreibt sich eben nicht von selbst, also durfte noch einmal Ihr heutiger Briefonkel ran.

Der Sofortismus regiert. Was heißt das? Man mutmaßt, ja urteilt über etwas, noch ehe man es gelesen oder zur Kenntnis genommen hat. Das Regierungsprogramm von Schwarz-Grün oder Türkis-Grün zum Beispiel ist so ein Fall. Da und dort wurden von politischen Gegnern im Voraus vergiftete Schnipsel kolportiert, die den erwünschten vorauseilenden Ärger auslösten, später im Kontext dann wieder etwas anders aussahen.

Die präventive Schutzhaft etwa, ein von Diktatoren gern gebrauchter und von den Grünen zuvor heftig bekämpfter Mechanismus, soll kommen. Mit grüner Duldung. Aber schlau wie sie sind, haben sie doch den Zusatz hineingeschwindelt, die Sache müsse verfassungskonform sein. Eine menschenrechtswidrige Sache ist aber nicht verfassungskonform, das hätte nur Herbert Kickl gern gehabt. Also bitte.

Man darf auch nicht den Fehler machen, ein Regierungsprogramm nach den Buchstaben zu interpretieren. Es geht um den Geist, mehr noch um den Stil der Sache. Da sich die beiden Partner zwar einig darin waren, dass die Koalition unvermeidlich ist, aber auch darin, dass sie in einigen Dingen partout nicht zusammenpassen, haben sie sich einer doch recht überraschenden gemeinsamen Basis besonnen. Des Marxismus.

Sebastian Kurz knallte Band 23 der gesammelten Werke von Marx-Engels auf den Tisch (Gernot Blümel hatte ihn ihm heimlich zugesteckt) und zitierte, Widersprüche löse man nicht auf, man gehe am besten mit ihnen um, „indem man die Form schafft, in der sie sich bewegen können“. „Das gute alte Kapital, Band 1“, erkannte Ökonom Werner Kogler gleich, worum es ging, und schlug ein.

Türkischgrün ist also die Form, in der sich Widersprüche bewegen können sollen. Die einen bekommen ihre symbolische Migrationspolitik, die anderen ihre hoffentlich realere Ökopolitik (wenngleich die angekündigte Steuerreform einen Hauch von türkischblauen Pfeifenträumen heraufbeschwört: auch dort waren die Segnungen für die kommenden Jahre geplant). Viele interessante Details lassen sich finden, die gähnenden Lücken in Medien- und Kulturpolitik blecken einen drohend an.

In einem aber kann man beruhigt sein. Die Prosa des Vertrags hat sich nicht gebessert. Die Einleitung liest sich so heimatsatt, also wäre sie vom Kampagnenbüro Van der Bellen für ein neues Heimatkundebüchl verfasst. Die gesamten 300 Seiten wollen wir, des guten Willens voll, erst einmal studieren, ehe wir sie beurteilen.

Und überhaupt, wie Friedrich Engels gern zu Karl Marx sagte: The Proof of the Pudding is in the Eating.

Ihr Armin Thurnher


Lesetipp

Ein interessanter Text über die Wirkung von Antipolitik, warum sie der Linken schadet und der Rechten nützt, am Beispiel Boris Johnson. Zum Beispiel: 88 Prozent der konservativen Wahlwerbung enthielten Lügen, bei Labour waren es null Prozent.


Hörtipp

Weltweit sind sieben Millionen Kinder in Haft. Wo steht Österreich? Menschenrechtsexperte Manfred Nowak, Ercan Niknafs von der Kinderanwaltschaft Wien und FALTER-Journalistin Nina Horaczek diskutieren im Falter-Radio mit Raimund Löw über die Situation der Kinderrechte.


Fundstück Des Tages

"Österreich ist ein wunderbares Land. Geprägt von Natur und Landschaft in Vielfalt und Schönheit ..." So beginnt er, der Koalitionsvertrag mit dem Nachsicht verdienenden Titel "Aus Verantwortung für Österreich". Lesen Sie ihn trotzdem.


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