Alles ist im Fluss

Raimund Löw
Versendet am 02.04.2020

wollen wir wissen, wie sich das Ende des Lockdowns einmal anfühlen wird, sollten wir nach China blicken. Zuerst machen die Friseure auf, dann die Banken und schließlich Restaurants, berichtet Peter Hessler in der aktuellen Ausgabe des New Yorker unter dem Titel: "Letter from Chengdu, Life on Lockdown". Der brillante Journalist und amerikanische China-Kenner hat mit seiner Familie 45 Tage Quasi-Quarantäne in Chengdu erlebt. Die 16-Millionenstadt im Südwesten Chinas ist für scharfe Speisen und einen idyllischen Stadtpark bekannt. In der Zeit der Quarantäne hat kaum eine chinesische Familie die Wohnanlage verlassen. Täglich sind Lebensmittel, TV-Geräte, Teppiche, Haushaltsgeräte von den Lieferdiensten bis zum Eingangstor gebracht wurden. Das Heer der Aufpasser sorgte für die Verteilung an die mehreren tausend Wohnparteien.

Das städtische Überwachungssystem machte einen Besucher aus der Unglücksprovinz Hubei ausfindig, der noch dazu infiziert ist. Misstrauen, jeder gegen jeden ist die Folge. Nach sieben Wochen lockert sich die Atmosphäre. Man trifft sich langsam wieder im Restaurant um die Ecke. Jeder Gast muss Fiebermessen. Die Temperatur der Hessler-Family steht mit dazugehörigen Handynummern auf dem Bestellschein: Ariel 36,5, Leslie 36,2, ich 36,00. Die Schulen öffnen nur langsam.

Peter Hessler beschreibt das Lockdown in Chengdu als groteskes Experiment, angetrieben durch die Panik vor dem Virus und der Folgsamkeit gegenüber der Partei. Chengdu ist von Wuhan mehr als 1000 Kilometer entfernt. In der ganzen Stadt gab es nur drei Corona-Tote.

Der Bericht klingt nach Orwell pur. Ist er aber nicht. Die Situation ist viel komplizierter. Orwells Big Brother hat die Macht der Feinde erfunden. Die Covid-19-Epidemie ist Realität. Zu besichtigen in den Spitälern Norditaliens, Spaniens, Frankreichs und demnächst auch in New York. Chinas autoritäres System hat es geschafft, den Ausbruch unter Kontrolle zu bringen. Die totalitären Methoden, die Peter Hessler in Chengdu beschreibt, haben funktioniert. Peking sorgt sich jetzt um die Folgen eines neuerlichen, zweiten Ausbruchs. Die Epidemie wird die Menschheit in mehreren Wellen treffen. Aufwärts- und Abwärtsbewegungen wird es Monate, vielleicht zwei Jahre lang geben, bis Medikamente und Impfungen entwickelt sind. Die Beschränkungen werden in Wellen kommen.

In dieser Seuchenzeit ist nur eines sicher: es gibt ein spektakuläres Comeback des Staates. Regierungen und Regierungschefs haben beispiellose Macht über den Alltag der Bürger. Das muss so sein. Die Ansteckung kann nicht durch Freiwilligkeit oder gar Vertrauen auf irgendeinen freien Markt eingedämmt werden. Wie diese Macht ausgeübt wird, wird die Zeit nach der Seuche prägen.

Ungarns Premiers Viktor Orbán versucht mit Corona einen Anlauf zum autoritären Staat. Die neuen Notstandsgesetze, die es ihm ermöglichen ohne Parlament zu regieren, haben kein Ablaufdatum. Ungarn wird keine Diktatur, beruhigt mich ein ungarischer Freund, aber auch keine Demokratie.

Sicherheiten darf man keine erwarten. Alles ist im Fluss. Hat vielleicht auch etwas Gutes, meint Ihr

Ihr Raimund Löw


Zum Hören

Im Falter Radio Podcast diskutieren wir heute den aktuellen Notstand. Es geht um Risiken für die Demokratie und Optionen in der Coronakrise. Nach langen Überlegungen haben wir uns entschlossen, die Podcastrunde, die gefilmt wird und im Wiener TV-Sender W24 sowie auf Falter.TV zu sehen ist, als Videokonferenz aufzustellen. Das Falter-Sitzungszimmer ist leer. Die Teilnehmer sitzen vor dem Laptop im Home Office. Technisch geschafft hat dieses Wunder Kameramann Daniel Oberlechner gemeinsam mit der IT des Falter. Zu hören sind Nationalratsabgeordnete Agnes Sirkka Prammer (Grüne), die ehemalige Präsidentin des obersten Gerichtshofes und ehemalige Nationalratsabgeordnete Irmgard Griss (Neos), Bundesheer-Sprecher Michael Bauer und Falter-Chefredakteur Florian Klenk. Es ging um Ischgl, die Parkanlagen in Wien und was Regierungen ohne Parlament dürfen. Auch warum Bundeskanzler Sebastian Kurz nur "Österreicherinnen und Österreich" anspricht, als ob es für das Virus relevant sei, welchen Pass jemand habe, haben wir angesprochen. Hören Sie hinein!


Zum Lesen

Ein tödliches Virus für die Europäische Union diagnostiziert Franz Kössler in der aktuellen Ausgabe des Falter. Nur zögerlich unterstützen einander die Mitgliedsstaaten in der medizinischen Notlage. Corona-Patienten aus Frankreich werden in Deutschland und jetzt auch in Österreich behandelt, weil die Spitäler in Frankreich überfüllt sind. Gleichzeitig tobt ein unzeitgemäßer Streit zwischen Nordstaaten und Südstaaten über sogenannte Corona-Bonds, gemeinsame Staatsanleihen der Eurostaaten für den Wiederaufbau. Die Hardliner in den Niederlanden müssen etwas zurückstecken. In Deutschland rückt die SPD vom Nein der Bundesregierung ab. Österreichs Bundesregierung könnte mit größerer Flexibilität helfen, die Nord-Süd-Blockade zu beenden. Hat man aber bisher aus Wien nicht gehört.


Bücher

Es gibt auch eine neue Folge unseres Buchpodcasts "Besser lesen mit dem FALTER". Nava Ebrahimi spricht mit Moderatorin Petra Hartlieb über ihren Roman "Das Paradies meines Nachbarn" und liest daraus. Es geht natürlich nicht nur darum, sondern auch die Coronakrise und was das mit den Menschen macht. Und Matthias Dusini aus dem Falter-Feuilleton bespricht ebenfalls passend das Buch "Todesalgorithmus" von Roberto Simanowski. Wie immer können Sie das auf falter.at/buchpodcast oder in Ihrer Podcast-App hören - am besten abonnieren Sie den Podcast gleich, dann verpassen Sie keine Folge. Hier finden Sie die Direktlinks zu Apple Podcasts, zu Spotify und zu Deezer.


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