Nie mehr Schule - FALTER.maily #1103
Ich schreibe Ihnen diese Zeilen aus meinem Kärntner Jugendzimmer. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich heute wie damals nichts als Wälder ...
Mitte März, als die Bundesregierung die ersten Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Epidemie setzte (ein Veranstaltungsverbot und danach eine Ausgangsbeschränkung) stellte ich auf Twitter eine Recherchefrage.
Ich wollte wissen, ob es irgendeinen Anwalt gebe, der diese Maßnahmen vor dem Verfassungsgerichtshof zu bekämpfen gedenke. Eine Reportage über so einen Juristen hätte ich spannend gefunden, schließlich erleben wir die größten Grundrechtseingriffe seit 1946. Nun hat sich einer gemeldet. Mehr dazu lesen Sie am Ende dieses Mailys.
Noch eine Frage erlaubte ich mir: ob es denn irgendeinen ernst zu nehmenden Experten gebe, der die Maßnahmen für Unsinn halte. Es gab ein paar. In Österreich, aber auch in Großbritannien und den Niederlanden. Doch die revidierten mittlerweile ihre Meinung. Nur Schweden beharrt noch auf einem Sonderweg, aber auch mit großen Einschränkungen.
Ich gebe zu, ich war damals naiv. Ich habe den Zorn, den diese zwei Fragen in einer gereizten und besorgten Social-Media-Welt auslösten, unterschätzt. Mir durchaus wohlgesinnte Kollegen ermahnten mich, ein Journalist mit hoher Follower-Gemeinde solle solche Fragen nicht stellen. Das verunsichere die Öffentlichkeit. Journalismus müsse Antworten geben in Krisenzeiten, aber nicht öffentlich herumfragen. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Vielleicht habe ich der Öffentlichkeit wirklich zu viel zugemutet. Weggefährten des Falter stellten auch Kündigungen ihrer Abos in Aussicht.
Seien Sie unbesorgt. Der Falter verharmlost nicht. Wir sehen die rasant steigenden Todeszahlen in Schweden, die Särge auf den italienischen Militärlastern, die dramatischen Appelle der Ärzte in Bergamo, die entscheiden müssen, wer überleben darf und wer stirbt. Auch wir lesen die dramatischen Tweets des Gesundheitsbeauftragten von New York, der von überfüllten Leichenhallen und frisch angelegten Friedhöfen berichtet. Und wir sehen, wie sich die Kurve in Österreich abflacht.
Aber es gibt eben Experten, die offen und konstruktiv Kritik an der aktuellen Politik üben, etwa den Public-Health-Experten Martin Sprenger, der hier wichtige Fragen aufwirft. Und alarmierend sind die Arbeitslosenzahlen, die weltweit gerade so unermesslich explodieren. Ein renommierter Wirtschaftsexperte sagte uns im off-records-Gespräch: "Die Republik Österreich, wie wir sie kennen, gibt es bald nicht mehr".
Mit bis zu einer Million Arbeitslosen rechnen manche Experten in Österreich, bis zu zehn Jahre könne die Rezession dauern. Es gibt Warnungen vor einer Pleitewelle, die 20.000 Betriebe umfassen könnte. Und ich lese zugleich die Analysen jener Experten, die darauf verweisen, dass die Toten in Italien und Madrid auch Opfer der Finanzkrise 2008 sind. Ein zusammengesparter Sozialstaat wrackt eben auch Intensivbetten ab. Eine Wirtschaftskrise kostet Menschenleben, so wie eine Pandemie. Wer Tote verhindern will, muss also auch eine Depression vermeiden, wie Peter Michael Lingens diese Woche argumentiert.
Dass Österreich die vielen Toten erspart geblieben sind, ist auch einem starken Sozialstaat zu danken - und den gibt es nur dann, wenn ein Land wirtschaftlich prosperiert. Deshalb sehe ich es auch als Pflicht des Journalismus an, Fragen nach der Verhältnismäßigkeit zu stellen und lästig zu sein, ob massive Grundrechtseingriffe wie etwa ein Lockdown der Wirtschaft wirklich noch notwendig sind. Wir fragen ja nicht, weil wir die Maßnahmen der Regierung oder Sebastian Kurz reflexhaft verdammen, sondern weil Journalismus - so wie Wissenschaft und Politik - stets nach besseren Lösungen Ausschau halten soll.
Einigen Leserinnen und Lesern, die ihre Abos kündigen wollten, habe ich diese unsere "Linie" in persönlichen Gesprächen näher gebracht: wir wollen Vielstimmigkeit, auch in Zeiten des Schulterschlusses. Ich freue mich, dass sie uns dann doch als Abonnenten erhalten geblieben sind. Wir brauchen in Zeiten der Krise eine kritische Leserschaft mehr denn je. Denn wir setzen, anders als manche unserer Konkurrenten, nicht auf steuerfinanzierte Kurzarbeit.
Ihr Florian Klenk
Die großen Notlazarette in Wiens Messehalle sind hoffentlich umsonst aufgebaut worden. Der Ansturm, den die Regierung für Ostern prognostizierte, dürfte - auch dank des Lockdowns - ausbleiben. Die Ärzte mahnen die Bevölkerung indes, weiter sorgsam zu sein. Denn schnell könne die Lage kippen - und schnell können sich auch Mediziner infizieren, weil sie immer noch zu wenig Schutzkleidung haben. Eine ausführliche Reportage über die Angst, aber auch das Sterben der Ärzte haben Nina Horaczek und Josef Redl verfasst. Mit der Ärztin und SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner sprach Barbara Tóth.
Wenn wir die Corona-Krise überstanden haben, wird die Wirtschaftskrise folgen. Selbst wenn Österreich die Hälfte der derzeit 600.000 Arbeitslosen wieder mit Jobs versorgen kann, bleibt das Land von geschwächten Nachbarstaaten umgeben. Der Tourismus droht angesichts der Ansagen des Bundeskanzlers, die Grenzen so lange geschlossen zu halten, bis es ein Medikament gibt, völlig zusammenzubrechen. Wer den volkswirtschaftlichen Multiplikatoreffekt verstanden hat, der weiß, was das bedeuten kann: den Niedergang ganzer Regionen, der Fremdenverkehrsstadt Wien inklusive. Eva Konzett hat ergründet, welche Lösungen Ökonomen anbieten. Und Barbara Tóth hat aufgeschrieben, wie die Krise vor allem von Frauen finanziert werden wird.
Ostererlass, verbotene Hausbesuche, Strafen wegen Bankerl-Sitzens, Drohnen in den Alpen. Erstaunlich ist das Wirrwarr, das Sozialminister Rudolf Anschober mit seiner Covid-Verordnung angerichtet hat. Anschober wird vom Gesetzgeber im Covid-Gesetz ermächtigt, "bestimmte Orte" mit einem Betretungsverbot zu belegen. In den erläuternden Bemerkungen steht geschrieben, was solche "bestimmten Orte" sind: Spielplätze, konsumfreie Zonen, Seeufer und dergleichen. Doch Anschober hat, wie Falter-Anwalt Alfred Noll zu recht rügt, die gesamte Republik zum "bestimmten Ort" ernannt. Hat er damit die gesetzliche Befugnis überschritten? Anwalt Noll sagt ja. Er hat beim Verfassungsgerichtshof namens einer hart bestraften Schülerin (sie tratschte mit Freunden vor einer Tankstelle und zahlte dafür 500 Euro) einen Antrag auf Aufhebung der Covid-Verordnung gestellt. Noll geht es nicht um plumpen Aktionismus, sondern er will gerade in Notstandszeiten ein wichtiges Prinzip eingehalten wissen: das der Gesetzmäßigkeit exekutiven Handelns. Der VfGH wird Nolls Beschwerde ohnedies erst in einigen Jahren entschieden haben. Rechtsgeschichte wird das Erkenntnis in jedem Fall schreiben.
Was aber ist heute schon erlaubt - zumal zu Ostern? Dürfen Oma und Opa dabei sein, wenn die Kleinen die Nesterln suchen? Ja, der der Besuch bei Verwandten ist gestattet, allerdings nicht mit Öffis. Wiens Polizeipräsident Gerhard Pürstl hat uns die Rechtslage in einem Interview erklärt. Aber er hat auch eine sehr wichtige Botschaft an die Österreicher gerichtet: nicht alles, was erlaubt ist, ist auch gescheit. Also bleibt Euren Mitmenschen vom Leibe, zumal den Vulnerablen. Schützt Eure Eltern, in dem ihr Ihnen nicht zu Nahe tretet, wascht Euch die Pfoten. Das gebietet nicht das Gesetz, sondern der gesunde Menschenverstand. Dafür braucht man keine Corona-Blockwarte, keinen Krampusdiskurs der Regierung, sondern nur seinen aufgeklärten Verstand.