Eine Frage der Moral - FALTER.maily #1051
Anstand und Moral haben sich in der Debattenkultur einen fragwürdigen Ruf erworben. Wenn Argumente fehlen, kann man sich immer noch auf die ...
mit der Solidarität verhält es sich wie mit Versicherungen: Sie wird in Notlagen schlagend. Nur dass keine Polizze den genauen Einsatz regelt. Auf Solidarität muss man sich einlassen. Und man kann sich nie ganz sicher sein, dass der andere nicht auslässt.
Das hat Italien in der Corona-Krise miterlebt. Die anderen EU-Mitglieder haben die Covid-19-Pandemie zu lange unterschätzt, haben mit scheelem Auge in Richtung Norditalien geblickt. Die Italiener, so hörte man, hätten, was denn sonst, nicht nur den eigenen Staatshaushalt nicht im Griff, und den eigenen Süden. Das Virus einzudämmen, schafften sie eben auch nicht. Bravissimo!
Kein Wort über die Gnade, nicht der erste gewesen zu sein. Keine Geste, als Rom Schutzmaterial bei den anderen EU-Staaten anfordert. Wir wissen heute: Hätte das Virus zuerst ein anderes Land heimgesucht, es wäre nicht besser darauf vorbereitet gewesen.
Es war die deutsche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die nun am Donnerstag Italien im Namen ganz Europas um Entschuldigung gebeten hat. Europa habe nichts getan als Italien eine helfende Hand gebraucht habe, sagte sie. Sie wählt diese Worte nicht ohne Grund.
Im traditionell europafreundlichen Italien greift der EU-Verdruß um sich. Die Zahl derer, die die EU befürworten, ist unter die Schwelle von 50 Prozent gerutscht. Ein tragischer Wert für ein EU-Gründungsmitglied. Ein blamables Zeugnis für die anderen 26-EU-Mitglieder.
Um zu verstehen, warum der italienische Ministerpräsident Guiseppe Conte so vehement darauf beharrt, dass nicht nur Corona-Bonds, also gemeinsamen Anleihen der EU-Staaten, aufgelegt werden, sondern dass sie das Virus auch im Namen tragen, muss auch diese Werte im Kopf haben. Noch wehren sich einige EU-Staaten, darunter Österreich, gegen die "Corona"-Bonds. Der Chef der rechtsradikalen italienischen Lega, Matteo Salvini, reibt sich wohl die Augen und die Hände, ob dieser weiteren verpassten Chance.
Die EU-Anleihen in Billionenhöhe werden kommen. Anders wird man die europäische Wirtschaft nach dem pandemiebedingten Shutdown nicht wieder in Gang bringen. Die Frage nach dem wann ist keine technische, sondern eine schicksalhafte.
Man kann den Virus nicht töten. Denn er lebt nicht. Man muss Solidarität leben. Sonst stirbt sie.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende
Ihre Eva Konzett
Das EU-Parlament hat einen eigenen Vorschlag zu gemeinsamen Anleihen präsentiert. Die Abgeordneten sprechen von "Recovery Bonds". Einen gute Überblick bietet dieser Artikel im deutschen Handelsbatt. Wer die Debatte um die Corona-Bonds in Echtzeit miterleben möchte, der folge auf Twitter den deutschen Ökonomen Jens Südekum, Gabriel Felbermayr oder Sebastian Dullien. Darüber hinaus hat das WIFO aufschlussreiche Analysen zu den wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie hier gesammelt.
Zwei Podcasts möchte ich Ihnen ans Herz legen, der eine blickt über Österreich hinaus, der andere tief in den Falter hinein. Mit Raimund Löw haben die EU-Abgeordneten Andreas Schieder und Othmar Karas und ich über die europäische Zereißprobe Corona gesprochen. In einem Werkstattgespräch diskutiert ebenselber Raimund Löw mit Florian Klenk, Armin Thurnher, Barbara Tóth, Nina Horaczek und Matthias Dusini, warum der Falter über die Pandemie berichtet, wie er es tut. Sie findet die Podcast-Folgen wir immer im Falter Radio.
Was ist der Mensch mehr als ein "denkendes Schilfrohr“, fragte der französische Philosoph Blaise Pascal. Der Twitteria ist der Denker vor allem in den vergangenen Wochen durch das Zitat näher gerückt, dass ganze Unglück der Menschen allein daher rühre, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen. Das ist natürlich wie jedes gute Zitat aus dem Kontext gerissen und verkürzt. Es passt aber wunderbar in diese Strudelteigzeit. Die Furche hat Pascal zu seinem 350. Todestag vor acht Jahren diesen Text gewidmet. Eine kurzweilige Einführung in das Werk veröffentlichte die Welt im "Mann, der für immer zuhause blieb" vor kurzem.