Corona Lügenpresse? - FALTER.maily #197

Florian Klenk
Versendet am 22.04.2020

vielleicht ist das nur so ein Bauchgefühl, meine persönliche anekdotische Evidenz, nicht mehr.

Aber irgendwas summt da im Ohr. Ein Misstrauen der Leserschaft gegenüber "den Medien". "Wieso schreibt ihr nicht über Schweden?", fragt ein Hofrat des VfGH.

Wieso, will ein ehemaliger SPÖ-Minister wissen, führt ihr kein Interview mit dem Arzt Wolfgang Wodarg, jenem ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten, der Covid für eine normale Grippe hält?

Wieso, urgiert die Verwandtschaft, klopft ihr nicht die Horrorprognosen der Risikoforscher noch einmal auf ihre Richtigkeit ab?

Oft kommen solche Fragen von Lesern, die nicht registriert haben, dass vielen Medien ausreichend Antworten gegeben haben (über Wolfgang Wodarg und Schweden gibt es ja unzählige Berichte, googeln sie selbst). Einerseits.

Andererseits – und das macht mir Sorge – steckt da auch jenes Körnchen Wahrheit drinnen, das die Lücken- und Lügenpresse-Verschwörungstheorie nährt und die Gesellschaft wieder aufspalten kann. Es stimmt ja auch: viele von uns, mich eingeschlossen, verzichteten in den ersten Wochen der Covid-Pandemie auf allzu forsches kritisches Hinterfragen. Einige stellten in den sozialen Medien ihre persönliche Betroffenheit zur Schau.

Das geschah alles nicht in böser Absicht, im Gegenteil. Wir alle, PolitikerInnen, ExpertInnen und JournalistInnen, wollten nur das Beste: weniger Tote und eine flache Kurve.

Aber es gibt ein nicht zu unterschätzendes Segment an Bürgern, das sich nun in "alternativen Kanälen" jene Wahrheit zusammenklaubt, die ihnen der "Mainstream" angeblich verschweigt. Donald Trump, aber auch Figuren wie Wiens FPÖ-Chef Dominik Nepp riechen das. Sie beginnen ihre eigenen Stories über Covid zu erzählen. Covid, die Waffe der Chinesen um die Welt zu beherrschen! Covid, nur ein Vorwand, um Österreich in einen Überwachungsstaat zu verwandeln! Covid, eine Krankheit, eingeschleppt von illegalen Migranten! Das ist Verschwörungsquatsch. Aber erstaunlich viele glauben ihn.

Wir Medienleute müssen jetzt verdammt aufpassen. Wir müssen auch diese Leserschaft erreichen, ihre Echokammern fluten, ehe die Wut anschwillt - und dabei sollten wir auch selbstkritisch sein. Und ja, auch Experten und Politiker dürfen zugeben, sich vielleicht auch in manchen Details geirrt zu haben - oder noch klüger geworden zu sein. Die Covid-Krise ist nicht die Stunde der Rechthaber, wie Sascha Lobo in diesem exzellenten Podcast argumentiert.

Jetzt kommt nämlich die fette Rechnung für März und April. In Österreich sind 900.000 Menschen in Kurzarbeit und 600.000 arbeitslos. Die Arbeitsämter in Deutschland verzeichnen laut Spiegel 13.000 Anrufversuche pro Minute (!). In normalen Zeiten sind es 12.000 pro Stunde. Österreich steht schon ohne Tourismus da, ohne Kulturfestivals, das wird die Wirtschaft umschmeissen. Die Leute werden verdammt wütend werden, wer sich die Selfmade-Videos vieler kleiner Unternehmer ansieht, der kann das schon jetzt registrieren. Und in Entwicklungsländern rutschen gerade noch viele mehr in tiefe Not.

Mich beschleicht eine Sorge. Bei erstaunlich vielen Leuten könnte, so wie bei der Migrationskrise, der Eindruck entstehen, dass wir auch nur Teil eines von oben gesteuerten "Schickeria-Journalismus" (Norbert Hofer) sind, der nicht "nach unten" schaut. Daher haben wir eine Bringschuld: wir müssen offen legen, warum wir berichten, wie wir berichten und wieso wir manches nicht berichten (konnten). Sonst droht ein Vertrauensverlust gegenüber der freien Presse. Und der nützt, wie die letzten Jahre zeigten, den Feinden der Demokratie.

Ihr Florian Klenk


Podcast

Der Falter pflegt diese Offenheit und Vielstimmigkeit nicht nur jede Woche in Redaktionssitzungen. Wir legen unsere interne Diskussion über die Covid-Berichterstattung nun auch in einem Podcast offen. Raimund Löw hat die leitenden RedakteurInnen des Falter sowie Falter-Herausgeber Armin Thurnher zu einem Runden Tisch versammelt und uns unangenehme Fragen gestellt.


Was Sie Lesen Sollten

Noch eine Neuerung darf ich Ihnen präsentieren. Auf falter.at/coronadebatte versammeln wir nicht nur alle unsere Essays, Interviews, Denkstücke und Reportagen zu Corona. Wir wollen dort auch ganz bewusst PolitikerInnen dazu einladen, über die Folgen von Corona zu reflektieren. Die Neos-Abgeordnete Stephanie Krisper und der Sozialdemokrat Max Lercher machen diese Woche mit Essays den Auftakt. Der Demokratie-Berater Marcus Brand lebt in Stockholm und berichtet von dort über das schwedische Experiment. Russland-Experte Wolfgang Sporrer hat uns diese Reportage aus Moskau geschickt. Wir laden auch Politiker der Regierungsparteien zum offenen Diskurs ein. Aber Vorsicht: die "Corona-Debatte" soll kein Phrasenabwurfplatz für Wahlwerbung werden, sondern eine offene Arena.


Aus Dem Falter

Eine große Recherche möchte ich Ihnen ganz besonders ans Herz legen. Eva Konzett und Josef Redl haben bei Wiener TourismusexpertInnen, Hoteliers und GastronomInnen nachgefragt, was Wien diesen Sommer erwartet. Es ist eine noch nie dagewesene ökonomische Katastrophe im Anmarsch. Und eine Wahl im Herbst. Rotes Wien? Totes Wien. Lesen Sie in der dieswöchigen Titelgeschichte, was der Stadt droht.


Gute Nachricht Zum Tag

Vielstimmigkeit finden Sie im Falter auch auf den Kommentarseiten. Neben Armin Thurnher, Raimund Löw, Franz Kössler, Peter Michael Lingens, Isolde Charim und vielen anderen schreibt auch Melisa Erkurt Woche für Woche über Politik und Gesellschaft. Diese Woche sind wir besonders stolz auf sie. Denn Melisa gewann den MiGAward 2020 in der Kategorie Medien. Wir gratulieren von ganzem Herzen!


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