Aus dem Leben eines Kritikers - FALTER.maily #1045
Übermorgen erscheint die nächste Ausgabe der FALTER-Buchbeilage. Gerlinde Pölsler (Sachbuch), Kirstin Breitenfellner (Kinderbuch) und ...
Montag Abend, kurz nach Redaktionsschluss, luden Kanzler Sebastian Kurz und sein Vize Werner Kogler den Falter zu einem Hintergrundgespräch in den Kongresssaal des Bundeskanzleramts. Auf elegant gedeckten Tischen saßen wir Medienleute unter Kronleuchtern, vor uns „Carpaccio von der Goldrübe“ und „rosa gebratenes Kalb mit zweierlei Karfiol“. Wir lauschten den zwei Regierungschefs. Was sie erzählen, darf hier nicht wiedergegeben werden, das sind die Regeln eines Gesprächs „unter drei“. Und nein, einen Seitenhieb auf die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gab es diesmal nicht.
Ich gestehe, dass ich seit diesem Abend große Lust verspüre, Kurz zu einem großen Interview über die Corona-Zeit zu überreden. Ich hoffe, er stimmt zu. Denn es war spannend, was er da zu erzählen hatte, ein Stück Zeitgeschichte, das es verdienen würde, aufgeschrieben zu werden. Aber leider spricht der Kanzler (noch?) nicht mit dem Falter. Aber vielleicht wird das ja noch. Die Kanzlerschaft dauert ja noch an. Und am nächsten Montag haben wir unseren großen Prozess. Da wird geklärt, ob unsere Recherchen über die geleakte ÖVP-Buchhaltung korrekt waren oder nicht. Innenminister Karl Nehammer wird als Zeuge erscheinen.
Kurz und Kogler wirkten am Montag jedenfalls nicht nur selbstbewusst, sondern auch erleichtert. Auch darüber, dass man sich wieder zusammensetzen und offen austauschen konnte. Über die Hilfspakete, die EU-Rettungsmilliarden und den Unmut unter Wirtschaftstreibenden, die noch immer auf Entschädigung warten.
Wie aber bewerten jene die Corona-Krise, die im Krisenstab der Regierung Kurz gegenüber saßen? Barbara Tóth ist diese Woche ein besonders schönes Streitgespräch geglückt. Sie brachte den Public-Health-Experten Martin Sprenger und den TU-Mathematiker Nikolas Popper an einen Tisch. Ungewöhnlich offen schildern die beiden Experten, was gut und was schief lief in den Tagen der Corona-Krise und wie das Ringen nach Erkenntnis wirklich war.
Anna Goldenberg ergänzt diese Titelgeschichte mit einem nicht weniger interessanten Gespräch. Sie interviewte eine deutsche Journalistin, deren Videos tausendfach geklickt werden: die Chemikerin und Wissenschaftspublizistin Mai Thi Nguyen-Kim. Im Stadtleben widmet sich Goldenberg gemeinsam mit Birgit Wittstock dann auch noch einem kaum ausgeleuchteten gesellschaftlichem Problem: der Not der Lehrlinge in der Corona-Krise. Deren Arbeitslosigkeit ist explodiert. Wer hilft?
Haben Sie eine gute Woche.
Ihr Florian Klenk
Im Kanzleramt haben wir Journalisten am Montag auch über Johann Gudenus und sein kolportiertes Drogenproblem gesprochen (der Kanzler saß da natürlich nicht am Tisch). Dass es ein Video gibt, das "Joschi" beim Koksen zeigt, war in der FPÖ bekannt. Der Kurier hat nun als erstes Medium jenen Polizeiakt veröffentlicht, in dem Screenshots des koksenden "Law & Order"-Politiker zu sehen sind. Die Bilder werden zu Recht gezeigt, denn Gudenus hat stets gegen Drogenkranke und gegen städtische Betreuungseinrichtungen gehetzt (siehe etwa hier). Dass der ehemalige blaue Fraktionschef ein Heuchler war, ist nun dokumentiert. Mit Privatleben haben die Bilder daher nichts zu tun. FPÖ-Wähler haben ein Recht darauf zu wissen, wie verlogen ihre Helden sind.
Der U-Ausschuss hat es übrigens nun abgelehnt, von einem der Anwälte der Ibiza-Hintermänner das Video entgegenzunehmen. Und die Soko gibt nun zu, doch nicht alle Teile des Ibiza-Videos zu besitzen. Ich gestehe, auch mich verwirrt dieser U-Ausschuss langsam, obwohl ich ihn stundenlang vor Ort verfolgte. Aber ich glaube, dass das Gremium eines der wichtigsten der Republik ist, nicht zuletzt weil die Akten so spannend sind. Wie Archäologen können wir uns durch Schriftrollen - die Chats - der einst Herrschenden wühlen und rekonstruieren, wie Türkis-Blau wirklich regierte. Diese Woche überfalle ich Sie nicht mit neuen Details, sondern biete Ihnen „Ibiza für Einsteiger“, also einen Überblickstext, der die Causa leicht verständlich aufbereitet. Falls Sie lieber hören statt lesen wollen, empfehle ich Ihnen Raimund Löws Podcast zu Ibiza. In 30 Minuten erklären wir dort alles, was Sie wissen müssen.
Eine investigative Recherche in dieser Ausgabe liegt uns besonders am Herzen. Die AktivistInnen von Sezioneri, einer Plattform für entrechtete LandarbeiterInnen, hat kürzlich erschreckende Fotos aus den Schlaflagern von Spargelpflückerinnen im Marchfeld veröffentlicht. Die Vorwürfe wiegen schwer: vier Euro die Stunde für harte Arbeit und ein Leben in verdreckten Ställen, dazu eine Toilette für 21 Personen in Corona-Zeiten.
Lisa Kreutzer und Eva Konzett sind jener niederösterreichischen Ausbeuter-Farm, die das zu verantworten hat, auf den Fersen. Gemeinsam mit den KollegInnen von ZiB1 und Standard haben sie die untragbaren Bedingungen auf unseren Spargelfeldern recherchiert und die Betreiber mit den Vorwürfen konfrontiert. Sozialminister Rudolf Anschober, Grüne, hat sich per Twitter bereits in die Sache eingeschaltet. Ein Video finden sie hier, die Reportage hier.
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