Београд

Eva Konzett
Versendet am 11.07.2020

es ist der 17. Juni dieses Jahres, Europa zählt 894.564 Covid-Erkrankte, in Italien sterben innerhalb eines Tages 66 Menschen am Corona-Virus. „Es ist aber absolut nicht vorbei“, sagt der österreichische Gesundheitsminister Rudolf Anschober besorgt. In der serbischen Stadt Novi Pazar nimmt an diesem 17. Juni in den Abendstunden der serbische Minister Rasim Ljajić Anlauf und springt von einer Bühne mit Luftballons, damit die Menschenmenge darunter ihn auffange. Es herrscht Wahlkampf. Und die Partei SNS von Präsident Aleksandar Vučić hat zur Party geladen, damit am Wahltag des 21. Juni alles gut gehen möge. Stagediving statt Babyelefant. Nicht nur in Novi Pazar. Sicherheitsmaßnahmen sind im Wahlkampf ausgesetzt.

Als Mithat Musić, Anästhestist im Krankenhaus von Novi Pazar, seine Eltern wenige später positiv auf das Corona-Virus testet, ist im Spital von Novi Pazar die Versorgung zusammengebrochen. Die halbe Ärztemannschaft und die Pfleger sind infiziert. Von elf Toten in einer einzigen Schicht schreibt das Journalistennetzwerk BIRN. Am 10. Juni zählt Serbien insgesamt 57 Neuerkrankungen. Am 29. Juni sind es 242, am 2. Juli 359. Und das sind die offiziellen Zahlen. In Serbien glauben die Menschen nicht an diese Statistiken. Und Mithat Musić muss seine Eltern zuhause pflegen.

Es ist der vergangene Mittwoch, als angesichts dieser Zahlen Wahlsieger Präsident Vučić ankündigt, wieder Ausgangssperren übers Wochenende einzuführen. Lockdown verschärft, sozusagen. Die Belgrader reagieren mit Protesten, sie laufen zum Parlamentsgebäude am zentralen Nikola Pašić Platz, sie versuchen in das Gebäude einzudringen. Die Polizei knüppelt drauflos. Sie tut es auch in der Folgenacht. In den sozialen Medien kann jeder per Handyvideo direkt dabei sein, wenn Polizisten prügeln, auf Demonstranten eintreten, diese wegzerren und und gekrümmt am Straßenrand liegen lassen wie einen angefahrenen Hund.

Serbien zählt sieben Millionen Einwohner. Das Land hält offiziell den Status eines Beitrittskandidaten der EU. Die Elite hört aber auf Russland. Und seit ein paar Jahren vor allem auf China, das Milliarden an Investitionen verspricht.

Die Menschen in Serbien haben nicht gegen die Ausgangssperre demonstriert. Sie demonstrieren gegen das Regime. Gegen die systemische Korruption. Gegen Nepotismus. Dagegen, dass in diesem Staat kein gutes Leben zu machen ist. 60.000 meist gut qualifizierte Serben verlassen jedes Jahr das Land.

Die Partei SNS war unter dem Namen "Liste Aleksandar Vučić – für unsere Kinder“ bei den Parlamentswahlen angetreten. Sie hatte nicht erwähnt, dass sie nur den eigenen Kindern etwas zu bieten hat.

Ich wünsche Ihnen ein fabelhaftes Wochenende, 

Ihre Eva Konzett


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Das journalistische Netzwerk BIRN leistet seit Jahren hervorragende investigative Arbeit am Westbalkan. Zur Lage in Novi Pazar hat Sasa Dragojlo diese Reportage geschrieben, aus der auch die obigen Szenen aus dem Krankenhaus entnommen sind.


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Die Wettervorhersage für heute ist ja nicht so berauschend. Umso besser, dass wir ausreichend Audio-Stoff für Sie zusammengestellt haben.

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Um den "Schwedischen Weg" und was dort schiefläuft in der Corona-Situation geht es in der aktuellen Folge des Falter Radio. Der Politikwissenschaftler Joakim Palme (Universität Uppsala) kritisiert die Maßnahmen der Regierung in Stockholm und hält den lockeren Umgang seines Landes mit Covid-19 für gescheitert. Das Gespräch in englischer Sprache mit Robert Misik im Bruno-Kreisky-Forum hören Sie auf falter.at/radio oder in Ihrer Podcast-App.

Am vergangenen Sonntag frühstückte unser Florian Klenk auf Ö3 bei Claudia Stöckl in "Frühstück bei mir". Die wirklich hörenswerte Sendung - es geht natürlich um Korruption, aber auch um Florians Garten - können Sie bei uns im Falter Radio nachhören. Viel Spaß damit!


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