Hoffnungslose Nachbarn - FALTER.maily #277

Nina Horaczek
Versendet am 28.07.2020

"Ungarn wurde gestern noch ein Stück hoffnungsloser", schrieb mir mein Kollege Márton Gergely vergangene Woche aus Budapest. Márton ist leitender Redakteur der unabhängigen Wochenzeitung HVG in Budapest.

Dieser Tage musste er miterleben, wie die Website index.hu zerstört wurde. Mit etwa 1,5 Millionen Besuchern am Tag ist Index das meistgelesene private Medium in Ungarn. Und eines der wenigen, das nicht unter Regierungseinfluss steht.

Mitte Juni erwarb der Unternehmer Miklós Vaszily fünfzig Prozent der Anteile an einer externen Firma, die das Anzeigengeschäft von index.hu abwickelt und so großen Einfluss auf die Finanzen des Nachrichtenportals hat. Vaszily ist ein Vertrauter von Ministerpräsident Orbán und dessen Fidesz-Partei.

Dann ging alles sehr schnell. Bald hieß es, das Nachrichtenportal müsse umstrukturiert werden. Index-Chefredakteur Szabolcs Dull wehrte sich dagegen, weil er fürchtete, das unabhängige Internetportal solle, wie so viele andere zuvor, in eine regierungsfreundliche Nachrichtenplattform umgewandelt werden.

Davon gibt es in Ungarn bereits viele. Im November 2018 überließen Orbán-nahe ungarische Oligarchen ihre Medienunternehmen per Schenkung der regierungsnahen Stiftung "KESMA". Heute besitzt KESMA etwa fünfhundert Medien, von TV-Sendern über Zeitungen, Magazine, Radiosendern bis zu Internetportalen. Sie alle berichten nach Parteilinie.

Index zählte zu den letzten tapferen Unabhängigen auf dem ungarischen Medienmarkt. Nun wurde Chefredakteur Dull entlassen. Der Aufsichtsrat von Index erklärte, das Verhalten von Dull sei geschäftsschädigend. Aus Protest gegen diese Entlassung kündigten mehr als neunzig der insgesamt etwa hundert Index-Mitarbeiter. Tausende gingen in Budapest auf die Straßen, um für Index und die Pressefreiheit zu demonstrieren.

Eine der schönsten Solidaritätsbekundungen kam aus Polen. Die unabhängige Tageszeitung Gazeta Wyborcza druckte gestern aus Solidarität mit den Kolleginnen und Kollegen von Index ihre Titelseite auf Ungarisch und Polnisch. Die Journalistinnen und Journalisten der Gazeta Wyborcza wissen genau, wie es sich anfühlt, wenn die Pressefreiheit stirbt. Seit die rechtskonservative PiS-Partei 2015 an die Macht kam, hat sich die Pressefreiheit in Polen massiv verschlechtert. Speziell die liberale Gazeta Wyborcza, ein Kind der Solidarność-Bürgerrechtsbewegung, wird von PiS-Politikern regelmäßig mit Klagen eingedeckt.

Der FALTER arbeitet im Rahmen des Recherchenetzwerks "Europes Far Right" seit längerem intensiv mit der HVG in Ungarn und der Gazeta Wyborzca zusammen. Wir tauschen Informationen aus, wir recherchieren gemeinsam, wir lachen gemeinsam. Und wir leiden mit, wenn unseren Kolleginnen und Kollegen in Ungarn, aber auch Polen, die Luft zum Atmen abgeschnitten wird.

Ihre Nina Horaczek


Aus Der Welt 1

Es sind nicht nur die Angriffe auf die Pressefreiheit, die in Bezug auf Polen Sorge machen. Nun verkündete Polens Justizminister Zbigniew Ziobro den Ausstieg Polens aus der "Istanbul Convention", einem völkerrechtlichen Vertrag zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Die rechtskonservative polnische Regierung bezeichnet diese Konvention als gefährlich, weil Schulkinder dadurch über Gender-Theorie unterrichtet und die Rechte von Eltern eingeschränkt würden, berichtet die BBC.


Aus Der Welt 2

Wenig zu lachen haben derzeit auch unsere Kolleginnen und Kollegen in Brasilien, wo Präsident Jair Bolsonaro in der Coronakrise die Angriffe auf die unabhängige Presse verschärft. Die NGO Reporter ohne Grenzen spricht von einem "Bolsonaro-System" mit dem Ziel, Medien zum Schweigen zu bringen, die öffentliche Debatte zu kontrollieren und von Problemen abzulenken, die sonst öffentlich diskutiert würden. Dabei helfen Bolsonaros Söhne, die – alle in politische Funktionen gehievt – via Social Media Journalistinnen und Journalisten attackieren, wie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen ist.


Buchtipp

Seit ich Márton Gergelys äußerst differenzierte Beschreibung der Person und der politischen Vita des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán gelesen habe, verstehe ich besser, was derzeit in Ungarn passiert. Sie finden diesen beeindruckenden Text im Buch "Angriff auf Europa. Die Internationale des Rechtspopulismus" (Ch. Links Verlag, 2019). In diesem Buch sind zahlreiche Recherchen des Journalismusnetzwerkes "Europes Far Right" zusammengefasst. Alle Bücher können Sie übrigens bequem und ab € 35,- Bestellwert auch versandkostenfrei im FALTER Shop bestellen.


Hörtipp

Heute Nachmittag, ab 17h, können Sie in der neuen Episode des FALTER-Podcast den Bestseller-Autor Daniel Kehlmann hören (zuletzt erschien von ihm Tyll, ein fiktive Biografie von Till Eulenspiegel inmitten des Elends von Inquisition und 30-jährigem Krieg). Kehlmann ist vor kurzem aus New York nach Europa zurückgekehrt und wohnt mit seiner Familie in Berlin. Im Gespräch mit Florian Klenk und Matthias Dusini vom FALTER spricht er über Cancel Culture, Rassismus und den Präsidentschaftswahlkampf in den USA.


Eine Offene Frage

Worauf wollte Sebastian Kurz eigentlich hinaus, als er im Puls 24-Interview mit Alexandra Wachter feststellte, dass sie ja ein eigenes Hirn habe? Möglicherweise seine freudige Überraschung zum Ausdruck bringen? „Ah, Sie haben ja ein tolles eigenes Hirn!“ Wohl kaum. Harry Bergmann zermartert sich in seiner Kolumne "Loge 17" sein eigenes Hirn über diese Frage. Seine Vermutung? Lesen Sie selbst!


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