Tintentod - FALTER.maily #293

Matthias Dusini
Versendet am 15.08.2020

wenn Sie das Wort nicht mehr hören können, löschen Sie es einfach: "Cancel Culture". Die Affäre um die Zensur eines Beitrags des deutschen Comedians Dieter Nuhr und die Absage einer Lesung der österreichischen Kabarettistin Lisa Eckhart, deren Roman "Omama" soeben erschienen ist, scheuchte die Feuilletons auf. Die einen sprechen von einem rechten Kampfbegriff, der das Engagement für Menschenrechte ins Lächerliche ziehe. Die anderen warnen vor der Einschränkung der Meinungsfreiheit, die selbst in aufgeklärten Kreisen zu Tabus führe.

Sogar die Werke von Künstlerinnen und Künstlern, denen bisher das Privileg der Vieldeutigkeit zuteil wurde, werden auf fragwürdige Aussagen hin abgeklopft und via Twitterpranger zum Abschuss freigegeben. Der australische Musiker Nick Cave empfahl der "schlechten Religion" Cancel Culture die Ausübung der christlichen Tugend Gnade: Kein Mensch, auch keine Künstlerin und kein Künstler ist unfehlbar. Cave muss es wissen, denn der schwedische Schriftsteller und notorische Frauenfeind August Strindberg (1849–1912) gehört zu seinen Lieblingen.

Man riecht sie nicht und sieht sie nicht. Die politisch korrekte Löschkultur wird gern als Phantom abgetan, ganz so, als wäre der Boykott von Filmen oder Wissenschaftlern ein von paranoiden Schreibern erfundener Spuk. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dessen 250. Geburtstag dieser Tage gefeiert wird, prägte den Begriff des Weltgeistes, der sich im vernünftigen Fortgang der Weltgeschichte artikuliere. Derzeit fällt es schwer, die Absonderungen des Gespenstes Vernunft zu riechen. Jene, die sich die Finger wundschreiben, um die Verschwörungstheorie CC zu vertreiben, verweigern sich einer Einsicht: Die linksliberale Öffentlichkeit hat derzeit ein akutes Problem: nicht nur mit der Rechten, sondern auch mit sich selbst.

Haben Sie ein schönes Wochenende,

Ihr Matthias Dusini


Hörtipp

"Je nachdem wie alt du bist und wie viel Zeit du auf Twitter verbringst, kennst du den Begriff Cancel Culture seit ein paar Jahren, oder hast ihn vor ungefähr einem Monat zum ersten Mal gehört", so beginnt der New York Times Journalist Michael Barbaro seinen zweiteiligen Podcast über "Cancel Culture". Gemeinsam mit seinem Kollegen Jonah Bromwich wirft er einen differenzierten Blick auf die Mechanismen des "cancelns", ergründet, wo der Begriff herkommt und analysiert, wie er im amerikanischen Wahlkampf mitmischt.


Lesetipp

Auch hierzulande wird demnächst wieder wahlgekämpft: #Wien2020. Für einen humoristischen Vorgeschmack auf die Wiener Landtags- und Gemeinderatswahlen, in denen sogar Gernot Blümel überlegt, sich einen Laptop zuzulegen und die Roten sich so sehr vor Dirndeln fürchten, dass sie lieber auf geölte Stuntmen-Bauarbeiter setzten, empfehlen wir die aktuelle "Loge 17"- Kolumne von Harry Bergmann.


Aus Dem Falter

Für den Fall, dass Ihnen der Wahlkampf schon zu den Ohren raushängt, bevor er überhaupt Fahrt aufgenommen hat, empfehlen wir für die Herbstsaison unsere hauseigene Statement-Maske: Hol mich hier raus, Falter.


Kunst

Geld, Gier, Reichtum – um diese Themen drehen sich nicht nur zeitgenössische Skandale von Wirecard bis Commerzialbank. Auch das Symposium der Salzburger Festspiele widmet sich heuer intensiv diesen drei Schlüsselbegriffen des "Jedermann". Zum Gespräch trafen sich dort die feministische Philosophin Lisz Hirn, der Banker Andreas Treichl und der Politikwissenschaftler Christian Neuhäuser. Moderiert wurde von Michael Kerbler, eingeleitet hat Helga Rabl-Stadler, nachzuhören ist alles im FALTER-Podcast.


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