Was wurde aus dem Sommer von damals? - FALTER.maily #301

Nina Horaczek
Versendet am 25.08.2020

wissen Sie noch, wo Sie den Sommer 2015 verbracht haben? Ich war ziemlich oft in Traiskirchen. Anfang August 2015 waren dort mehr als 4.000 Menschen im Flüchtlingslager einquartiert, 1.500 von ihnen mussten im Freien auf der Wiese schlafen.

Zu den schlimmsten Dingen, die ich damals dort erlebt habe, zählen eine Mutter, die ihr Baby auf einem Pappkarton auf dieser Wiese zur Welt bringen musste. Und ein 15-jähriges Mädchen, das völlig dehydriert war. Die Teenagerin aus Somalia hatte wegen der schlechten Verpflegung im Lager massiven Durchfall, traute sich aber nicht auf die Frauentoilette, weil es kein WC-Papier gab. Sie und alle andere Minderjährigen, die alleine nach Österreich geflüchtet waren, wurden damals von Wien aus Traiskirchen herausgeholt und adäquat untergebracht.

Ich habe aber auch viel Schönes in Traiskirchen gesehen. Menschen aus nah und fern kamen, um zu helfen. 2015 war nicht nur ein Sommer der Krise. Es war auch der Sommer der Mitmenschlichkeit.

Diese Hilfe gibt es bis heute. Das belegen wissenschaftliche Studien, die ich in den vergangenen Wochen gelesen habe, um die Folgen von 2015 anhand von Zahlen, Daten und Fakten beschreiben zu können (den Artikel dazu lesen Sie am Mittwoch im Falter). Bei der Suche nach Jobs waren es vor allem Kontakte zu Österreichern, die den Geflüchteten den Weg in den Arbeitsmarkt bahnten. 2019 waren 37 Prozent der Syrern, 50 Prozent der Afghanen, 43 Prozent der Iraker und 46 Prozent der Iraner, die in Österreich leben, erwerbstätig. Durch Corona hat sich diese Zahl verringert, schließlich arbeiten 57 Prozent der seit 2015 nach Österreich Geflüchteten in atypischen Beschäftigungsverhältnissen (Teilzeit, befristete Arbeitsverträge oder als Scheinselbständige).

Natürlich ist nicht alles gut gegangen bei der Integration dieser Geflüchteten. Besonders junge Männer aus Afghanistan gerieten oftmals in den Fokus der Polizei. 2015 standen Afghanen bei den Tatverdächtigen ohne österreichischen Pass an fünfter Stelle.

Das Thema Integration, das Zusammenwachsen der Österreicher mit den derzeit mehr als 50.000 Syrern, 43.000 Afghanen, 13.000 Irakern und mehr als 14.000 Iranern wird uns noch länger begleiten. Einiges ist dabei schon gut gelungen. Vieles wartet noch.

Das, was aus Syrien und Afghanistan geflüchtete Menschen in einer Umfrage angaben, gibt Hoffnung, dass uns diese Aufgabe gemeinsam gelingen wird. Auf die Frage, ob sie sich als Flüchtlinge in Österreich willkommen fühlen, antworteten 77 Prozent der Befragten mit Ja. Nur fünf Prozent fanden, die Österreicher seien gar nicht gastfreundlich.

Ihre Nina Horaczek


Lesetipp

Im Jahr 2015, als uns die Bilder des völlig überfüllten Flüchtlingslagers Traiskirchen schockierten, waren weltweit 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht. 2019 waren es laut UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR 79,5 Millionen. 45,7 Prozent davon sind Binnenflüchtlinge im eigenen Land. Der Großteil aller Geflüchteten, 85 Prozent, schafft es nicht in den reichen Westen, sondern lebt in armen Ländern, in denen die lokale Bevölkerung kaum das Nötigste zum Überleben hat. Vierzig Prozent dieser weltweit Vertriebenen sind Kinder. Alle Zahlen und Fakten zu weltweiten Fluchtbewegungen finden Sie (auf Englisch) im aktuellen Global Report des UNHCR.


Worüber Wir Reden Sollten

Wie die New York Times berichtet, ist Griechenland inmitten der Corona-Pandemie dazu übergegangen, Flüchtlinge aus den Lagern auf den Ägäis-Inseln in Boote zu verfrachten und auf hoher See auszusetzen. Seit Jahren wartet Griechenland auf Unterstützung anderer EU-Staaten durch eine Umverteilung der Geflüchteten; bekanntlich mit mäßigem Erfolg. Boote auf offenem Meer zurückzudrängen, heißt im Fachjargon "Push-back" und ist völkerrechtswidrig. Die neue Unmenschlichkeits-Praxis des Aussetzens auf Hoher See durch einen Europäischen Staat sollte schneller beendet werden, als sie einen Namen erhält.


Gute Nachricht Zum Tag

Vorige Woche habe ich im Falter anhand des Beispiels Oberösterreich über die Auswirkungen der "Sozialhilfe Neu" berichtet, die von der türkis-blauen Bundesregierung 2019 eingeführt worden war und die auch unter Türkis-Grün in Kraft blieb (den Artikel finden Sie hier.) Ich berichtete unter anderem von der Familie Akram aus Afghanistan, die seit vielen Jahren in Oberösterreich lebt. Die Familie war nach einem Unfall des Vaters und dem Jobverlust der Mutter in Not geraten. Als subsidiär Schutzberechtigte haben die Eltern und ihre vier Kinder in der "Sozialhilfe Neu" aber keinen Anspruch auf Sozialhilfe oder Familienbeihilfe mehr. Sie wisse nicht, wie sie eine Schultasche für ihren Jüngsten bezahlen soll, der im September in die Schule kommt, erzählte mir die Mutter. Kaum war der Artikel veröffentlicht, meldeten sich schon unglaublich viele Falter-Leserinnen und -Leser, um der Familie zu helfen. Ihnen allen möchte ich Danke sagen!


Ganz Was Anderes

Lesen Sie gerne? Und tauschen Sie sich gerne mit anderen über Gelesenes aus? Dann ist das Lesekränzchen im Falter-Buchclub genau das Richtige für Sie. In diesem digitalen Lesezirkel werden Bücher kapitelweise gemeinsam gelesen und diskutiert. Ab 7. September starten wir mit der Neuerscheinung "Das Experiment sind wir" des Spiegel-Journalisten und Kognitionspsychologen Christian Stöcker, das am 14. September im Blessing Verlag erscheint. Stöcker argumentiert, dass wir die großen Herausforderungen unserer Zeit – Künstliche Intelligenz, Klimawandel und Bevölkerungswachstum – nicht ohne neues Denkwerkzeug und einen neuen Pakt zwischen Bildung und Fortschritt bewältigen können. Hier können Sie eines von 10 Freiexemplaren gewinnen.


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