Srebrenica - FALTER.maily #1049
Der österreichische Politikwissenschaftler Walter Manoschek ist ein Kapazunder im Bereich der Holocaust-Forschung. Seine Arbeit zur Verfolgung ...
"Erlebst du Antisemitismus?" Die Frage höre ich oft, die Antwort fällt mir schwer. Versteht man darunter persönliche Beschimpfungen? Dann nein. Ist damit gemeint, ob antisemitische Attacken wie jene in Graz am vorvergangenen Wochenende mein Leben einschränken? Dann ja, auch wenn mein Judentum nur in meinem Nachnamen sichtbar ist. Damit bin ich vermutlich weniger gefährdet als Elie Rosen, Präsident der jüdischen Gemeinde Graz, ein prominentes Gesicht, der öfters eine Kippah trägt. Doch wer weiß, ob der Attentäter möglicherweise Nachahmer beflügelt.
Was mir jedoch in meinem Alltag am häufigsten begegnet, ist Unwohlsein der anderen. Es fängt mit dem Begriff an. "Wer jüdische Mitbürger angreift, greift die Grundpfeiler unseres demokratischen Zusammenlebens an", erklärte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) in einer ersten Reaktion auf das Attentat. Inhaltlich ist ihm zuzustimmen, aber: warum "Mitbürger"? Sind wir keine "Bürger"? Warum spricht kaum ein Politiker von "Jüdinnen und Juden"?
Im Mittelalter war "Jude" ein Synonym für Geldwechsler; man füge christlichen Antisemitismus und Nazi-Propaganda hinzu und erhalte einen an sich neutralen Begriff, der historisch stets negativ konnotiert war. Die Bezeichnung ist dennoch kein Schimpfwort – auch wenn es als solches noch immer zu hören ist. Trotzdem wird es den Antisemiten überlassen. Stattdessen werde ich gefragt, ob ich "jüdische Wurzeln" habe. Ich bin kein Baum!
Die wenigsten trauen sich, weitere Fragen zu stellen, zu Geschichte, Religion und Identität. Der Grund ist das Unwohlsein: Auch 75 Jahre nach dem Ende des Holocausts ist dieser Teil der Geschichte zwar präsent, aber schlampig aufgearbeitet. Antisemitische Klischees lungern herum und ein latent schlechtes Gewissen überwiegt, bestärkt durch eine Gedenkkultur, die gerne auf die Tränendrüse drückt, aber die Diskussion scheut.
Jüngstes Beispiel: das neue Holocaust-Mahnmal in Wien, eine Mauer mit den Namen der 65.000 ermordeten Jüdinnen und Juden, das ohne Ausschreibungsprozess beschlossen wurde. Bei der Rede zum Baubeginn verglich Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) die Erinnerung an den Tod ihres Großvaters mit dem Gedenken an die Ermordeten. Es war eine vertane Chance, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sinnvoll zu verknüpfen.
Ein Montag voll mutiger Fragen wünscht Ihnen,
Ihre Anna Goldenberg
Zum Holocaust in Österreich habe ich einen persönlichen Bezug. Mein Großvater überlebte die NS-Zeit als "U-Boot" versteckt in Wien; 2015 schrieb ich erstmals im Falter darüber. Drei Jahre später erschien mein Buch "Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater rettete", in dem ich auch die Geschichte meiner Großmutter, die als 14-Jährige nach Theresienstadt deportiert wurde, aufarbeitete. Oft habe ich mir die Frage gestellt, wie meine Großeltern, gebürtige Wiener, nach dem Krieg in ihrer Geburtsstadt bleiben konnten. Haben sie vergeben? War danach alles besser? Die Antworten finden Sie in meinem Buch.
Wie stark antisemitische Ressentiments in Europa nach wie vor verbreitet sind, zeigte sich auch an der Demonstration gegen die deutsche Corona-Politik in Berlin am Wochenende. Neben bekannten Verschwörungstheoretikern und Reichsflaggen-schwingenden Rechtsextremisten waren auch subtilere, aber doch klar antisemitisch konnotierte Inhalte zu sehen. Viele Demonstrierende seien sich dieser Dimension ihres Denkens gar nicht bewusst, erklärte Levi Salomon vom Jüdischen Forum für Demokratie in Berlin in einem Interview für die TAZ: "Das Problem ist, dass sie nicht zugänglich sind für Aufklärung."
Mein wohl liebster Artikel im aktuellen Falter ist jener über die Social Media-Plattform OnlyFans, die pornografische Inhalte erlaubt. Das macht es für Darsteller wie die 27-jährige Marie Einheimler möglich, selbstbestimmt und unabhängig zu arbeiten. Die junge Journalistin Laura Fischer hat recherchiert, wie das System funktioniert und zudem ausführlich mit Einheimler gesprochen.