Eine Frage der Moral - FALTER.maily #1051
Anstand und Moral haben sich in der Debattenkultur einen fragwürdigen Ruf erworben. Wenn Argumente fehlen, kann man sich immer noch auf die ...
wir leben nicht mehr im Hammer & Dance-, sondern im Ziehharmonika-Modus. Das klingt ja auch gleich gemütlicher, mehr nach Heimat, vertraut und heimelig. Das Bild von der Ziehharmonika, die man mal aufbläht und dann wieder zusammendrückt, um auf ihr spielen zu können, hat Kanzler Sebastian Kurz in den paar Interviews geprägt, die er vergangenes Wochenende gegeben hat. Was er uns damit sagen will: Der Corona-Herbst wird flexibler und differenzierter als das Corona-Frühjahr, keine Sorge vor Schocks, Lockdowns und Home-Schooling. Kurz will nicht mehr Einpeitscher und Mahner, sondern Moderator und Manager der anstehenden Corona-Wochen sein. Mehr Anschober, weniger Nehammer, so kann man es auch zusammenfassen.
Kollege Christian Nusser hat in seiner Kolumne Kopfnüsse dankenswerterweise die Kurz-Interviews nachgezählt. Es waren insgesamt 11, bei 14 in Österreich erscheinenden Tageszeitungen, das ORF-Sommergespräch gestern Nacht nicht mitgezählt. Auch Nussers Blatt "Heute" bekam einen der "Interview-Slots" vergangenen Freitag, nachdem Kurz eine Pressekonferenz gab, die gar als "Rede zur Lage der Nation" angekündigt war (was sie nicht war) und in der er etwa das sagte, was er dann auch in den Print-Interviews formulierte und überdies einer ausgewählten Journalistenrunde in einem Hintergrundgespräch am Abend zuvor schon übermittelt hatte (der Falter war eingeladen, yeah).
So etwas nennt man im Politbeobachtersprech dann eine "Kommunikationsoffensive". Was ich mich als Journalistin dann immer frage: Es ist jedem Politiker unbenommen, medial vorzupreschen, warum aber machen fast alle Berichterstatter mit und lassen sich im Akkord mit den immer gleichen Antworten abfertigen?
Guten Start in die Woche wünscht,
Ihre Barbara Tóth
Kurz noch zum Thema Ziehharmonika: Auch Ö1-Kollege Stefan Kappacher hinterfragt in seinem Blog "gehört gebloggt" den unkritischen Interviewreigen, er interpretiert diesen als ein typisch rechtspopulistisches Verhaltensmuster, schließlich gehe es Kurz dabei weniger um Inhalte als um Emotionen und Affekte. Er zitiert dabei den Historiker Jan Gerber, der diese These in diesem Essay für die NZZ aufgestellt hat. Eine alternative "Rede zur Lage der Nation" unseres Herausgebers Armin Thurnher können Sie hier nachlesen.
Ich war letzten Samstag im komplett eingeregneten Alpbach, um beim 75-jährigen Forum Alpbach gemeinsam mit dem ehemaligen Innenminister und OGH-Präsidenten Eckart Ratz, Ex-Ministerin Maria Rauch-Kallat und dem deutschen Botschafter Ralf Beste über die rechtlichen und politischen Folgen des Ibiza-Skandal zu diskutieren. Demnächst wird die Veranstaltungen online nachzusehen sein. Der Korruptionsexperte Ratz glaubt nicht an eine strafrechtliche Verurteilung Heinz-Christian Straches. Das, und wie er den Unterschied zur "Cash for Law"-Affäre rund um den Ex-Innenminister Ernst Strasser aus dem Jahr 2011 argumentierte, ist sehr spannend. Bis dahin folgen Sie unbedingt Ralf Beste auf Twitter, der Botschafter, ehemals Spiegel-Journalist, ist ein scharfsichtiger Beobachter heimischer Umstände.
Putins Seiltanz um Lukaschenko, Nawalny und Proteste in Fernost. Den labilen Zustand des großen Nachbarn Russland erklären die langjährige ORF-Moskau Korrespondentin Susanne Scholl und der Russlandexperte Gerhard Mangott im aktuellen FALTER-Podcast.