Neues über die Lüge - FALTER.maily #318

Armin Thurnher
Versendet am 14.09.2020

habe ich Sie schon einmal auf Hannah Arendt hingewiesen? Gewiss. Die große Publizistin, die nicht gern eine Philosophin genannt wurde, aber doch eine war, sagte: "Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird."

Arendt schrieb dies in ihrem Essay "Wahrheit und Politik". Sie nimmt darin auf Ihre umstrittene Berichterstattung vom Eichmann-Prozess in Jerusalem und die Reaktionen Bezug. Berühmt ist ihr Bericht, weil sie Adolf Eichmann, dem Organisator der industriellen Vernichtung der Europäischen Juden, eine "Banalität des Bösen" zuschrieb.

Darum geht es heute nicht. Dieses Maily möchte Ihnen im täglichen politischen, kulturellen, gesellschaftlichen Geschehen Orientierung bieten. Dazu gehört es, Sie alarmistisch darauf hinzuweisen, dass unserem Orientierungssinn gerade Orientierungsmarken abhanden zu kommen drohen.

Lassen wir Donald Trump beiseite. Den Unwahrheitszähler der Washington Post, der über 20.000 Unwahrheiten Trumps in seiner Präsidentschaft registrierte, braucht niemand mehr; längst bräuchte es einen Wahrheitszähler, der die wenigen unzweifelhaft richtigen Aussagen dieses besonders verlogenen Exemplars eines Politiker extra sichtbar macht.

Österreich genügt. Nehmen wir die Argumentation des Bundeskanzlers. Die Menschlichkeit werde in  Österreich besonders gut dadurch gewahrt, sagt er, dass es keine Kinder und schon gar keine Familien aus dem abgebrannten Flüchtlingslager Moria auf Lesbos aufnimmt. Er stützt seine Entscheidung auf Aussagen, die allesamt falsch sind. Erstens sei 2015 eine Katastrophe gewesen. Das stimmt so nicht, es war auch ein Fest der Hilfsbereitschaft. Allein das zu unterschlagen und 2015 zur Katastrophe zu erklären, ist eine Unwahrheit des damaligen Außenministers Kurz. Weiters bestehe die Gefahr, 2015 würde sich wiederholen. Davon kann keine Rede sein, versichern fast alle Experten. Außerdem habe Österreich mehr getan als andere. Österreich hat im Verhältnis zu seiner Größe viele Flüchtlinge aufgenommen, Tendenz sinkend. Stimmt. Die "Hilfe vor Ort" aber ist im Vergleich zu Deutschland und der Schweiz auch bei Berücksichtigung der Größe der Länder ein schlechter Scherz.

Vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss schwanerte der Nationalratspräsident Sobotka daher, das Alois-Mock-Institut, dessen Präsident er ist und das Inserate vom Glücksspielkonzern Novomatic bekam, habe mit der ÖVP nichts zu tun, die Telefonnummer habe man nur kurz mit der ÖVP geteilt und das Personal bestehe aus lauter ÖVP-lern, aber halt nur so.

Der auf Ibiza als Möchtegern-Täter überführte Heinz Christian Strache präsentiert sich als Opfer einer kriminellen Intrige. Ein Staatskritiker, der Fakten umdreht, nur um an ein einträgliches Pöstchen zu kommen.

Und dann haben wir noch Corona. Gerade zeigte uns der Kanzler das "Licht am Ende des Tunnels", nun droht er uns mit der Finsternis der "zweiten Welle". Ein epidemiologisch umstrittener bis nutzloser Begriff, ebenso wie die Behauptung, "alles im Griff" zu haben (Gesundheitsminister Anschober) oder "die Ampel". Lesen Sie dazu die heutige Seuchenkolumne, gestaltet vom Innsbrucker Virologen Robert Zangerle (siehe auch unten).

Es wird nicht leichter, Wahrheit und Unwahrheit voneinander zu unterschieden. Diesen Versuch dürfen wir nie aufgeben, auch wenn die Chancen nicht besonders gut stehen. Der Wahrheitsersatz mag fast überall regieren. Lassen wir uns davon nicht abhalten, nach dem Original zu suchen.

Ihr Armin Thurnher


Corona

In der Seuchenkolumne ist regelmäßig der Innsbrucker Virologe Robert Zangerle zu Gast. Heute seziert er die Ampel in ihrer jetzigen Form als "glatte Fehlkonstruktion". Schauen Sie auch seine älteren Kolumnen an! Zum Beispiel über die Folgen des Lockdown für Nicht-Corona-Patienten, die Ampel, was wir über das Virus wissen und nicht wissen und viele andere. Die Seuchenkolumne können Sie hier einfach und kostenfrei abonnieren.


Podcast

Wir hatten Sie im Maily vom Samstag bereits darauf hingewiesen, dann aber mit einem falschen Link in die Irre geführt: Das Gespräch von Raimund Löw mit dem in Paris arbeitenden Wiener Journalisten Danny Leder. Fünf Jahre nach dem Mordanschlag gegen die Satirezeitung Charlie Hebdo hat dort nun der Prozess gegen die mutmaßlichen Helfer begonnen. Die Angst vor dem islamistischen Terror ist noch immer da. Außerdem geht es um die Frage, warum Präsident Emmanuel Macron Kriegsschiffe gegen die Türkei ins Mittelmeer schickt.


Bücher

Hannah Arendt zu lesen lohnt sich immer. Hier finden Sie den oben erwähnten Essay "Wahrheit und Politik", den schönen Briefband "Wahrheit gibt es nur zu zweien" mit Briefen an die Freunde, und ihren berühmten Bericht "Eichmann in Jerusalem" sowie einen Band über die Kontroverse um dieses Buch.


Noch Ein Hinweis

Noch eine Kolumne möchten wir Ihnen ans Herz legen: Aus der Loge 17 heraus zerlegt Harry Bergmann in seiner aktuellen Kolumne die ÖVP-Strategie, mit den niedrigsten, rassistischen Reflexen zu spielen, um in der Zielgerade der Wien-Wahl noch Stimmung und Stimmen zu machen.


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