Ausflug - FALTER.maily #320

Matthias Dusini
Versendet am 16.09.2020

jeder soll tun, was er kann, und das bekommen, was er braucht. Unter diesem Motto versammelten sich 1972 auf dem Friedrichshof, 60 Kilometer südöstlich von Wien, einige Aktivistinnen und Aktivisten, um eine Utopie zu verwirklichen. Die Aktionsanalytische Organisation (A.A.O.), nach ihrem Gründer auch Muehl-Kommune genannt, entwickelte sich zu einem der radikalsten Experimente der Alternativkultur. Gemeinschaftseigentum und freie Liebe stellten bürgerliche Werte in Frage. Das Projekt endete mit einem Desaster. Otto Muehl und seine Frau Claudia landeten wegen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen im Gefängnis. 

Heute ist der Friedrichshof ein lohnendes Ausflugsziel. Die Geschichte aktionistischer Kunst ist in einer kleinen, vom Architekten Adolf Krischanitz entworfenen Kunsthalle zu sehen. Für 2020 wäre eine Retrospektive der deutschen Gruppe Zentrum für politische Schönheit geplant gewesen, doch dann kam Corona. Die Kunstwerke der Sammlung Friedrichshof zeigen sehr schön den Übergang von dem traumatischen Frühwerk zur machtbesoffenen Malerei der nordkoreanischen Phase. 

Mit etwas Glück trifft man auch noch eine Veteranin oder einen Veteranen, die das Anwesen nach der Auflösung der Kommune 1990 in eine Genossenschaft überführt haben. Zum Friedrichshof gehört ein Hotel mit einem sehr guten Restaurant und einem Badeteich. Die einst kahlen Felder haben sich in ein Wohngebiet mit kühlenden Bäumen und einem autofreien Zentrum verwandelt. Die Gründergeneration reagiert auf kritische Fragen nicht mehr mit einem Abwehrreflex, sondern gesteht die moralische Mitverantwortung an den Verbrechen ein. Die zweite Generation lässt keine Ausreden mehr zu.

Der Filmemacher Paul-Julien Robert ist selbst ein Kind der Kommune und erhob in dem Film "Meine keine Familie" (2012) Anklage gegen seine Mutter, ein Aufschrei, der die ältere Generation aufrüttelte. Robert arbeitet die Geschichte der A.A.O. nun auch in einer wissenschaftlichen Veranstaltungsreihe auf. Der Ort, das Wiener Volkskundemuseum, ist gut gewählt. Auf Außenstehende wirkte die Friedrichshof-Kommune immer schon wie ein Stamm aus der Frühzeit des Patriarchats. 

Ihr Matthias Dusini


Kunst

28 Kilometer vom Friedrichshof entfernt entwarf der ehemalige MAK-Direktor Peter Noever "Die Grube", ein berühmtes Werk der Land Art. Am 27. September, 15 Uhr, kann Noevers persönliche Auseinandersetzung mit der Landschaft Pannoniens im Rahmen des Tages des Denkmals besichtigt werden.


Aus Dem Falter

Der heute erscheinende FALTER macht Ausflüge zu vielen aktuellen Brennpunkten: Chefredakteur Florian Klenk spricht mit dem Migrationsexperten Gerald Knaus über die Hintergründe des humanitären Desasters von Moria, Armin Turnher schreibt gegen den Missbrauch der Flüchtlingsfrage durch die Regierung an.

Für unseren Schwerpunkt zur Wien-Wahl 2020 begeben sich Anna Goldenberg, Nina Horaczek und Josef Redl auf Wahlbeobachtung in die "Wiener Swingstates", wo sich die Bezirksvorstehung ändern könnte - und analysieren, was das bedeutet. In unserer Serie der Spitzenkandidatinnen und -kandidaten hat Barbara Tóth diese Woche ein Porträt von Wiens ÖVP-Chef Gernot Blümel verfasst, der wie sein Regierungschef Sebastian Kurz vor allem um FPÖ-Stimmen buhlt. 

"Spieglein, Spieglein an der Hand", im Feuilleton lesen Sie diese Woche Klaus Nüchterns Essay über die Selbstdarstellerinnen und Politikrabauken im "Zeitalter des Narzissmus". Im Stadtleben erzählen vier Lehrerinnen und Lehrer Birgit Wittstock von ihrem Alltag an Wiener Mittelschulen, der von mangelnden Deutschkenntnissen, familiären Härtefällen und unerfüllbaren Lehrplänen geprägt ist. Gerlinde Pölsler hat im Sommer ein Praktikum bei einem Tiroler Schafsbauern absolviert, der Wölfe nicht abschießen möchte und deshalb als "Wolfskuschler" gilt. Eine gefährliche Angelegenheit, wie sie im Landleben beschreibt und in diesem Videobericht zu sehen ist. Wir wünschen eine anregende Lektüre!


Podcast

In Teil 2 unserer Interviewserie zur Wien-Wahl 2020 hören Sie heute NEOS-Gemeinderat Christoph Wiederkehr im Gespräch mit Raimund Löw und Nina Horaczek. Bereits online: Teil 1 der Serie, das Gespräch mit Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ). 


Job Des Tages

Der FALTER sucht Verstärkung! Für den Aufbau eines neuen journalistischen digitalen Tagesmediums sind wir auf der Suche nach einer/einem Reporterin/Reporter (w/m/d). Gefragt ist eine Person, die neugierig ist, Wien und seine politischen Institutionen ebenso kennt, wie die versteckten Winkel und Geheimnisse der Stadt. Alle Details gibt es hier. 


Das FALTER-Abo bekommen Sie hier am schnellsten: falter.at/abo
Wenn Ihnen dieser Newsletter weitergeleitet wurde und er Ihnen gefällt, können Sie ihn hier abonnieren.
Weitere Ausgaben:
Alle FALTER.maily-Ausgaben finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!