Europas Guantánamo

Raimund Löw
Versendet am 17.09.2020

Gerald Knaus, Chef der kleinen Denkfabrik European Stability Initiative, liefert messerscharfe Analysen. Die Katastrophe des Flüchtlingslagers Moria auf Lesbos sei gewollt, argumentiert Knaus im deutschen Fernsehen. Griechenland und die mit Athen an einem Strang ziehenden EU-Regierungen, darunter auch Österreich, benutzen die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln als Geiseln ihrer Abschreckungspolitik. Im aktuellen Falter bezeichnet Knaus das Insellager als "europäisches Guantánamo".

Emotional wird Knaus selten. Der Politikwissenschaftler will mit den Regierungen im Gespräch bleiben. Im Krone-TV hält er Österreichs Bundeskanzler Kurz höflich falsche Zahlen vor, wenn dieser vor Millionen und Abermillionen warnt, die kommen würden, wenn ein paar zehntausend Flüchtlinge von den Inseln verteilt würden.

Vor ein paar Jahren hat Sebastian Kurz den australischen Weg gepriesen, Boatpeople auf Inseln festzusetzen, von denen sie nie mehr wegkommen. Der damalige österreichische Botschafter in Canberra war entsetzt. Lesbos, Samos und Chios seien die europäische Version der Lager auf den Pazifikinseln Nauru und Papua Neuguinea, argumentiert Knaus. Dabei gäbe es Alternativen, die sowohl machbar als auch humanitär vertretbar sind.

Zumindest wird Innenminister Nehammer jetzt Notunterkünfte nach Griechenland bringen lassen. Eine bescheidene Geste für die obdachlos gewordenen Menschen. Aber Gerald Knaus redet nicht herum: Decken seien es nicht, die in Griechenland fehlten. Was fehle, seien Asylverfahren, die in ganz Europa stattfinden. Die Länder an den Außengrenzen – Griechenland, Malta und Italien – dürften nicht das Gefühl haben, allein gelassen zu werden. 2017 wurden 20.000 Flüchtlinge vom griechischen Festland in die EU verteilt, 1979 viele tausende Bootsflüchtlinge aus Asien.

Was laut Knaus ebenfalls fehlt, ist ein rationaler Umgang mit der Türkei. Präsident Erdoğan ist ein autoritärer Zyniker und ein brutaler Machtmensch. Aber die Geografie kann man nicht ändern. Die Türkei ist unsere Nachbarschaft. Friedensverhandlungen muss man mit seinen Feinden führen, pflegte der israelische Aktivist Uri Avnery seine Kontakte zu Palästinenserpräsident Jassir Arafat zu rechtfertigen. Mit Milliardenzahlungen hat die EU den in der Türkei lebenden Syrienflüchtlingen ein würdiges Leben ermöglicht. Schulen und Kliniken wurden geschaffen, das Geld kommt an. Jede Flüchtlingsfamilie hat eine Scheckkarte für das Notwendigste. Der Konflikt der EU mit der Türkei gefährdet die Finanzierung für die nächsten Jahre.

Österreich drängt auf eine noch schärfere Linie gegenüber der Türkei und liege damit schon wieder falsch, meint Knaus. Statt sicherzustellen, dass sich weniger Flüchtlinge auf den Weg machen, weil sie in der Türkei von Europa versorgt werden, setzen zahlreiche EU-Regierungen lieber auf die abschreckende Wirkung der elendigen Lager auf Lesbos & Co.

Wenn die Politik sich bei uns derart verhärtet, dass humanitäre Gesten nicht mehr möglich sind, dann ändert das auch uns. Wie wäre Österreich geworden, wenn Wien in der Ungarnkrise 1956 die Grenzen geschlossen hätte? Wenn auf Flüchtlinge geschossen worden wäre, wie heute der griechische Grenzschutz auf Flüchtlingsboote schießt, weil wir mit den Flüchtlingen der Nachkriegszeit überfordert waren und weil noch so viel zerstört war in unserem Land? Weil nicht sicher war, wie viele Nachkommen bleiben wollen im verarmten Österreich? Diese Argumentation ist 1956 glücklicherweise niemandem eingefallen.

Wie Österreich zu dieser Tradition wieder zurückfindet, ist eine Frage, an der wir noch einige Zeit zu arbeiten haben werden, fürchtet

 

Ihr Raimund Löw


Buchtipp

Die Orbán-treuen ungarischen Medien haben eine Hetzkampagne gegen Gerald Knaus gestartet. Knaus fürchtet sich nicht, sagt er, aber er wird als "Judenschwein" und "Dirigent" von Soros bezeichnet. Seine Ansichten fasst der Leiter der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative ESI in einem neuen Buch zusammen: Welche Grenzen brauchen wir? erscheint im Oktober im Piper Verlag.


Aus Der Welt

Donald Trump hat den erstaunten Amerikanerinnen und Amerikanern erzählt, dass die Österreicherinnen und Österreicher in Wäldern wohnten, konkret in "forest cities", in Wald-Städten. Die Bäume seien dort hochexplosiv, wie Raketen, aber sie fingen kein Feuer wie in Kalifornien, weil die Europäerinnen und Europäer auf ihre Wälder aufpassten, so der Präsident. Dieser Unsinn hat im Internet zu einer kreativen Welle von Spott und Hohn über Trump und seine Waldmenschen in Europa geführt.

Die Story mit den Wald-Städten hat einen ernsten Hintergrund. Die verheerenden Waldbrände im Westen der USA werden von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als Folge des Klimawandels angesehen, dessen Existenz Trump aber leugnet. Daher gibt er der Forstwirtschaft in Kalifornien und Oregon die Schuld, die viel schlechter sei, als jene in Europa. Die Feuerkatastrophe im Westen der USA hat schlagartig die Klimakrise ins Zentrum des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes katapultiert.


Corona

Wenn die Schweiz und Deutschland Wien als Corona-Krisengebiet ansehen, dann könnte man meinen, dass Ischgl längst vergessen sei. Von dem Tiroler Schiort aus hatte sich eine der ersten Infektionswellen über Europa ausgebreitet. Aber weit gefehlt: Der britische Guardian widmet dieser unangenehmen österreichischen Erfahrung diese Woche einen ganzen Podcast. Was bei aller Schlampigkeit und Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen am wenigsten verständlich ist: warum in Ischgl keine rasche Aufklärung der Ursachen stattgefunden hat. Hätte man innerhalb weniger Wochen offengelegt, was schief gelaufen ist, wäre das Tiroler Krisenmanagement leichter in der Lage gewesen, Vertrauen zurückzugewinnen.  


Podcast

Im FALTER-Podcast widmen wir uns diese Woche ganz dem Wiener Wahlkampf. In einem Interviewmarathon haben wir den sozialdemokratischen Bürgermeister Michael Ludwig, die grüne Vizebürgermeisterin Birgit Hebein und Spitzenpolitiker von Neos, ÖVP und FPÖ interviewt. Von Michael Ludwig und Birgit Hebein wollten Nina Horaczek und ich wissen, wie die Chancen auf Rot-Grün 3 stehen. Warum sich Neos als liberale Partei nicht ganz so leicht tut, setzte uns Spitzenkandidat Christoph Wiederkehr auseinander. Die Vertreter von ÖVP und FPÖ haben wir gefragt, was sie bei ihren ähnlichen Anti-Ausländer-Parolen eigentlich voneinander unterscheidet. Aber bitte, hören Sie selbst hinein. Bis Samstag gibt es jeden Tag ein neues Interview, heute ist das Interview mit Markus Wölbitsch von der ÖVP erschienen. Ein Zusammenschnitt aller Gespräche ist auch auf dem Stadtsender W24 und auf falter.tv zu sehen.


Errata

Im Artikel zu den "Wiener Swingstates" wurde fälschlicherweise behauptet, dass die SPÖ in Wien-Währing bei den Nationalratswahlen 2019 vor ÖVP und Grünen lag. Da sind uns die Zahlen durcheinander gekommen: Bei den Nationalratswahlen 2019 lagen die Grünen mit 29,1 Prozent vor ÖVP (26,7 Prozent) und SPÖ (17,2 Prozent). Dass die ÖVP 2017 an erster Stelle lag, ist korrekt.

Der Bürgermeister von Lustenau ist nicht von der FPÖ, wie Nina Horaczek versehentlich in ihrem Kommentar im aktuellen Falter geschrieben hat, sondern Kurt Fischer von der ÖVP. Gemeint war natürlich der FPÖ-Politiker und Bürgermeister von Hohenems, Dieter Egger. Er hat (wie übrigens auch sein ÖVP-Kollege in Lustenau) gesagt, er wäre bereit, als "Akt der Menschlichkeit" Flüchtlinge aus dem griechischen Lager Moria aufzunehmen. Wir entschuldigen uns für die Verwechslung.


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"FALTER Arena - Journalismus live" - Baumann/Klenk/Niggemeier/Thür - 1. Oktober, Stadtsaal
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