Sehnsucht nach realen Räumen - FALTER.maily #339

Klaus Nüchtern
Versendet am 08.10.2020

vergangene Woche hat das Wintersemster an den Universitäten begonnen, für die meisten ging's diese Woche wirklich los. Die Voraussetzungen sind, wie man Anna Goldenbergs Artikel mit dem sprechenden Titel "Leerveranstaltung" im Falter der vergangenen Woche entnehmen konnte, alles andere als klar und rosig. War im Sommersemester vom einen auf den anderen Tag "E-Learning" angesagt, so lautet die aktuelle Devise "hybrid Studieren" – womit Mischformen aus digitaler und Präsenzlehre gemeint sind. Nun lässt sich das frontale Format der Vorlesung noch einigermaßen verlustfrei ins Digitale hieven, bei stärker interaktiv orientierten Lehrveranstaltungen überwiegen die Nachteile: Menschen, die auf Laptops starren, sind kein gutes Setting für lebhafte oder gar kontroverse Auseinandersetzungen – zumal, wenn die virtuell Anwesenden nicht einmal zu sehen sind, weil sie ihre Kameras nicht eingeschaltet haben. Ein Referat zu halten, bei dem man statt den Zuhörern und Zuhörerinnen nur die eigene Power Point Präsentation am Schirm sieht, ist eine Erfahrung von ganz eigenem Frustrationspotential.

Leider spricht vieles dafür, dass das Wissenschaftsministerium und die Rektorate die Universitäten, sprich: den Lehrkörper und die Studierenden wieder ähnlich alleine lassen wie im vergangenen Semester. Schon klar: Alle waren überfordert und den Umstand, dass das entsprechende Equipment für "E-Teaching" schlicht nicht zur Verfügung stand, mag, wer will, unter "höherer Gewalt" verbuchen. Während im Rest des Landes der Wunsch nach einem "Reopening" immer dringlicher artikuliert wurde, unterwanden sich die Universitäten einer freiwilligen Selbstentmächtigung, die ihresgleichen suchte und von der Germanistin und Literaturkritikerin Daniela Strigl in ihrem Falter-Kommentar völlig zurecht scharf kritisiert wurde. Absurdestes Symptom dieser Shutdownseligkeit: Die Hauptbibliothek der Universität Wien war bis Anfang Juli nur über eine Außentreppe zu erreichen. Wer diese Möglichkeit in Anspruch nahm, musste der dort postierten Kontrollperson auf seinem oder ihrem Handy das E-Mail mit der Entlehnbestätigung vorweisen: Als ob irgendjemand die Entlehnabteilung nur aus Jux und Tollerei beziehungsweise zu dem Zweck betreten wollte, dort schnell einmal ein paar Viren auszustreuen.

Als Kollateralgewinn der Corona-Maßnahmen ließe sich allenfalls die Prüfung im "Open Book-Verfahren" verbuchen. Statt die Kästchen eines Multiple Choice Tests anzukreuzen und zu raten, ob das Nachahmungsprinzip der Aristotelischen Poetik nun Mimose, Mammatus, Mimesis oder Anamnese heißt (Ich habe das gerade erfunden – glaube ich jedenfalls …), kann man während der in Echtzeit stattfindenden "Fernprüfung" auf alle Materialien und Quellen zugreifen, über die man verfügt. Statt der Reproduktion von Daten, Fakten und Powerpoint-Merksätzen ist der kreative und eigenständige Umgang mit Lehrinhalten gefragt.

Auch ein bizarres Déjà-vu hat uns der Shutdown der Universitäten beschert: die Rückkehr der Zigarette in den "Hörsaal". Im Proseminar konnte man den Professor und den Studenten auf einmal wieder rauchen sehen. Während meines Erststudiums, das fast die gesamten 1980er-Jahre währte, war das kein so seltener Anblick. Auf dem Institut, an dem damals auch der Philosoph Robert Pfaller studierte, herrschte in manchen Seminaren nachgerade Rauchzwang. Vielleicht hat dieser Umstand mit dazu beigetragen, dass Pfaller das Rauchverbot seit Jahren als Ausdruck all dessen kritisiert, was gerade falsch läuft in unserer Gesellschaft. Heizen Sie sich also ruhig eine an, wenn Sie gerade "im Hörsaal" sitzen, meint

Ihr Klaus Nüchtern


Zum Lesen

Während sich die Länder Europas gerade wechselweise mit Reisewarnungen sekkieren und unter anderem tourenden Künstlerinnen und Künstlern das Leben schwer machen (Wer zahlt die Corona-Tests?), ist ein gewichtiges Buch des britischen Historikers Orlando Figes erschienen. Es trägt den Titel "Die Europäer" und handelt davon, wie sich in der Mittel des 19. Jahrhunderts das aufstrebende Bürgertum des Kontinents als dezidiert kosmopolitische Klasse über ihren Kulturkonsum konstituierte. Voraussetzung dafür war der Ausbau der Eisenbahn, die einen internationalen Kunstbetrieb mit Operngastspielen und Weltausstellungen erst begründete und es Iwan Turgenjew, der mit seinen grandiosen "Aufzeichnungen eines Jägers" (1852) einen entscheidenden Beitrag zur Aufhebung der Leibeigenschaft geleistet hatte, ermöglichte, der von ihm nicht nur platonisch verehrten Sängerin Pauline Viardot durch halb Europa nachzureisen.


Zum Schaün

Eisenbahn und Kino gehören zusammen, seitdem die Gebrüder Lumière im Jahr 1895 "Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat" filmten und das Premierenpublikum in Jahr darauf erschrocken auseinanderstob. Darüber hinaus erwiesen sich Züge als herausragender Schauplatz für Sex & Crime, vulgärfreudianische Symbolik inklusive. Das schönste schienophile Werk der Filmgeschichte ist freilich Buster Keatons Bürgerkriegsepos "The General", das – wie das Dreieck Turgenjew, Pauline und Louis Viardot – eine Ménage à trois abbildet: diesfalls jene zwischen dem leidenschaftlichen Lokomotivführer Johnnie Gray, seiner entführten Geliebten Annabelle und seiner Lok, eben: "The General".


Einladung

Die oben erwähnte Daniela Strigl und ich betreiben seit 17 Jahren die Literatur-Talkshow "Tea for Three". Der nächste Termin am 15. Oktober soll (nach heutigem Stand) im Modus physischer Realpräsenz des Publikums und unseres Gastes, der Historikerin Katharina Prager, stattfinden. Es würde uns freuen, sie in der Hauptbücherei Wien begrüßen zu dürfen. Das genaue Programm mit einem sehr aktuellen thematischen Schwerpunkt finden Sie hier.


Podcast

Selbstbestimmt in den Tod gehen, geht das? Derzeit entscheidet der Verfassungsgerichtshof, ob es in Österreich ein Recht auf "assistierten Suizid" geben soll. Im FALTER Think-Tank hat der Völkerrechtler Ralph Janik die Eckpunkte der Debatte zusammengefasst. Im FALTER-Radio diskutierten dazu der Rechtsanwalt Wolfgang Proksch, die ehemalige SPÖ-Gesundheitsstadträtin Elisabeth Pittermann, der stellvertretender Obmann der Laieninitative Peter Pawlowsky und die Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi. Hier können Sie das Gespräch anhören!


Zur Ermunterung

"Sag du, Florian" heißt das Programm von FALTER-Chefredakteur Florian Klenk und dem Satiriker Florian Scheuba (nächster Termin: 18.Oktober). Der Investigativ-Journalist und der Investigativ-Kabarettist lassen darin die Skandale der jüngsten Vergangenheit – von Ibiza bis Spesenkonto – Revue passieren und geben einige Schmankerln von ihren Besuchen beim Ibiza-Untersuchungsausschuss zum Besten. Ein wenig Auflockerung kann in Wahlkampfzeiten schließlich nie schaden. Hier können Sie nachlesen, was die Süddeutsche Zeitung über das Programm zu sagen hat.


Das FALTER-Abo bekommen Sie hier am schnellsten: falter.at/abo
Wenn Ihnen dieser Newsletter weitergeleitet wurde und er Ihnen gefällt, können Sie ihn hier abonnieren.
Weitere Ausgaben:
Alle FALTER.maily-Ausgaben finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,17 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!