Von Herzen, Arschlöchern und zwei prächtigen Burschen

Klaus Nüchtern
Versendet am 05.11.2020

"Man kann sich nie sicher fühlen, auf dera Wöd, oder? Es is so. Nix is sicher." Der Kommentar, den eine Passantin in der Wiener Innenstadt der ORF-Reporterin ins Mikrofon spricht, bezieht sich zwar auf die schrecklichen Morde des Terroristen Kujtim F., passt aber auf vieles, was sich derzeit in Wien, in Österreich und auf der Welt abspielt.

Dass auf der "nix sicher" ist, war für viele, die hierzulande in einem der wohlhabendsten und privilegiertesten Winkel der Welt lebten, aber mehr ein abstrakt gewusstes, als konkret erspürtes Wissen. Eine gesicherte Grundversorgung, gesicherte Pensionen, die Gewissheit, dass es unsere Kinder einmal (noch) besser haben würden, wurden nicht nur stillschweigend vorausgesetzt, sondern auch eingemahnt, schließlich schien uns das, was, historisch betrachtet, die Ausnahme war, als "normal": ein Narrativ, auf das wir uns zu verlassen dürfen glaubten. Dann kam Corona. Das Virus attackierte aber nicht nur den Körper, sondern auch unser Vertrauen: Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit in einem Ausmaß, wie wir sie bislang nur aus Geschichtsbüchern und flackernden Schwarz-Weiß-Filmclips aus Histo-Dokus kannten, waren auf einmal besorgniserregend nahe gerückt.

Apropos Körper. Er ist der Schauplatz, an dem die derzeit virulentesten Diskurse zusammenlaufen: jene von Sicherheit und von Freiheit. Der islamistische Terror verletzt und zerstört die Körper seiner Opfer, zielt aber auf den Körper einer Gemeinschaft, die von den Mördern im Namen einer perversen Form von Religion verabscheut wird. Es ist kein Wunder, dass Körpermetaphern gerade Hochkonjunktur haben: Die Schreckenstaten hätten sich "im Herzen von Wien" zugetragen, sie zielten "auf das Herz" unserer liberalen Demokratie, die im übrigen, wie Armin Thurnher unlängst in seinem Leitartikel schrieb, "an Haupt und Gliedern" erneuert werden müsse.

Die wohl berühmteste politische Körpermetapher ist jene auf der Frontispiz von Thomas Hobbes’ Traktat "Leviathan" (1561). Sie zeigt den Souverän, dessen Oberkörper aus den Leibern seiner Untertanen besteht, die diesem ihre "gesamte Macht und Stärke" übertragen haben: (Ein Stück) Freiheit wird gegen Schutz und Sicherheit abgegeben – das ist der Deal. Klingt ziemlich aktuell, oder? Allerdings hat Hobbes keine Theorie der Demokratie, sondern eine Apologie des Absolutismus entworfen. Was bedeutet es also, wenn der Staat ganz buchstäblich die Bewegungsfreiheit des Volkes einschränkt, das doch in einer Demokratie der eigentliche Souverän ist? Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen ist jedenfalls vor den Horizont der zu wahrenden Grundrechte und der Einhaltung der Menschenrechtskonvention zu stellen. Einen Kommentar von Florian Klenk zu diesem Thema finden Sie hier.

"Freiheit, Gleichheit und Solidarität" sind in den letzten Tagen wiederholt in Reden beschworen worden – als jene Werte, die unsere Gesellschaft ausmachen und die gerade heftig attackiert wurden. Solche Lippenbekenntnisse sind gewiss aufrichtig und gut gemeint, bleiben aber letztendlich leblos, wenn sie nicht auch körperlich erfahrbar gemacht werden. Die eigene Betroffenheit samt Tränen-Emoticon zu twittern hat mit Solidarität nichts zu tun, sondern ist deren pietät- und geschmacklose Parodie. Und sich mit Herzerl-Hashtags zu Wien zu bekennen, ist auch wenig mehr als psychohygienischer Kitsch.

Wahrhaft solidarisch gehandelt haben Tayyip Gültekin und Mikail Özen, die einer Frau und einem Polizisten zur Hilfe geheilt sind und sich dabei selbst in Gefahr gebracht haben (die irritierend ambivalenten Biografien der beiden und die PR-Aktion des türkischen Präsidenten hat der Welt-Journalist Deniz Yücel hier beschrieben). Dennoch: Auf ihr Handeln kann Wien stolz sein. Dass der Ausruf "Schleich di, du Oaschloch!" nicht von ihnen stammt, ist nicht so wichtig. Er passt in jedem Falle!

¡No pasarán!

Ihr Klaus Nüchtern


Podcast

Apropos Oa... Donald Trump ernannte sich gestern völlig verfrüht zum Sieger, fabulierte von Wahlbetrug und forderte einen Auszählungsstopp. Ein solcher würde vor allem demokratische Briefwählerinnen und -wähler um ihre Stimmen bringen. Im aktuellen FALTER-Podcast mit Raimund Löw analysieren der Historiker Mitchell Ash, die ehemalige Washington-Botschafterin Eva Nowotny, die Sängerin und DJ Cassy Britton sowie Falter-Herausgeber Armin Thurnher den bisherigen Stand der Dinge. Außerdem geht es um das weltweite Echo auf den Terror in Wien. Ab 9h können Sie den Podcast hier anhören!


Zum Lesen

Was haben islamistischer Fundamentalismus und der Rechtspopulismus eines Donald Trump gemeinsam? Sie sind, so argumentiert Isolde Charim in ihrem Buch "Ich und die Anderen" "eine Abwehr der Pluralisierung" in unserer Gesellschaft. Nicht bei Charim, aber bei vielen sitzt der Populismusvorwurf freilich recht locker: Populisten sind immer die anderen. Eine lesenswerte Polemik des deutsch-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Hans Ulrich Gumbrecht wider diesen leichtfertigen und selbstgefälligen Umgang mit dem Populismusbegriff können sie hier nachlesen.


Zum Hören

"This Is Not America" hieß der Song, den David Bowie, Pat Metheny und Lyle Mays für John Schlesingers Spionage-Drama "The Falcon and the Snowman" geschrieben haben. Für Charlie Hadens Liberation Music Orchestra hat ihn die große Carla Bley neu arrangiert.


Zur Ermunterung

Beschriebene Tanzperformances sind ein bisschen wie ein gemaltes Abendessen. Ich nutze als die Gelegenheit, die anmutige kinetische Körperkunst, die ich unlängst schon in einer Enthusiasmuskolumne angepriesen habe, zum gefälligen Konsum zu verlinken: Laurel & Hardy in "Bonnie Scotland" (1935). Wer sich seiner/ihrer Kontrolle über die eigenen Körperfunktionen nicht hundertprozentig sicher ist, sollte aber in jedem Falle frische Unterwäsche bereithalten.


Lesetipp

Der Terroranschlag von Wien wirft neben politischen auch juristische Fragen auf: vom Staatsbürgerschaftsentzug über die Verpflichtung, Dschihadisten an der Ausreise zu hindern. Ralph Janik, der an der Universität Wien Wirtschaftsvölkerrecht und Menschenrecht lehrt, legt im FALTER Think-Tank eine juristische Bestandsaufnahme vor.


Erratum

In unserem gestrigen Maily haben wir die Entscheidungsabstimmung Bush vs Gore aus dem Jahr 2000 mit 6:5 angegeben. Es war natürlich 5:4, weil es neun US-Höchstrichter gibt. Das vieldiskutierte Packing, also die Erweiterung des Kollegiums, haben wir offenbar mental vorverlegt. Sorry.


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