Aufklärung

Florian Klenk
Versendet am 11.11.2020

ich gehe, auch zur persönlichen Seelenhygiene, immer wieder an den Tatort. Das Bermudadreieck, es liegt vor unserer Redaktion, hat sich in ein rotes Lichtermeer, einen Passionsweg, verwandelt. Die Menschen hier gedenken, weinen, stellen Fragen, legen Blumen nieder. Manche sind auch wütend. Kein Wunder. Auch eine Woche nach dem Anschlag sind noch viele Fragen offen. Vor allem jene nach der staatlichen Verantwortung.

Eva Konzett, Lukas Matzinger und ich haben versucht, die wichtigsten Fragen zu beantworten und leider keine beruhigenden Antworten gefunden. Weil der islamistische Terror auch international wütet, sind wir einem Rechercheverbund mit der Süddeutschen Zeitung, dem NDR und WDR beigetreten. Wir kooperieren auch mit Kolleginnen und Kollegen vom Schweizer Fernsehen und dem Tagesanzeiger.

Wenn man alle Fakten zusammenfügt, zeigt sich ein beängstigendes Bild. Brutale, sehr junge "Homegrown"-Dschihadisten treffen auf einen machtlosen Staat, der ihnen zusieht, aber nicht rechtzeitig eingreift.

In der Wohnung des Attentäters Kujtim F., 20, hat sich zum Beispiel – vor den Augen des Verfassungsschutzes – nicht nur eine in Deutschland und der Schweiz bestens vernetzte Dschihadistenszene getroffen, Kujtim F. hat sich auch noch nach Bratislava aufgemacht, um Patronen für seine Langwaffe zu kaufen. Auch das steht seit August 2020 in den Akten des Verfassungsschutz. Passiert ist nichts.

Dazu kommt: Einvernahmeprotokolle und Berichte von Kujtim F.s Betreuern, die der Falter erstmals veröffentlicht, zeigen, wie radikalisiert und labil der einschlägig vorbestrafte Wiener HTL-Schüler war. Die Justizbehörden wussten nicht nur, dass er bereit war, ins IS-Kalifat zu fahren; der ihn betreuende Verein Derad hatte auch festgestellt, dass sein Bart und seine Haare immer länger, seine Muskeln immer stärker wurden.

Den Verein Derad trifft an der Katastrophe freilich die geringste Schuld. Hauptverantwortlich sind das Bundesamt für Verfassungsschutz, eine Behörde die von Parteibuchwirtschaft korrumpiert, von Herbert Kickl und der WKStA nachhaltig beschädigt und von Karl Nehammer immer noch nicht reformiert wurde.

Aber auch das Justizministerium steht in der Kritik, denn die Betreuung einer erheblichen Anzahl von Gefährdern wurde von ehemaligen ÖVP-Justizministern einem kleinen Verein umhängt und dieser nicht ausreichend dotiert.

Und dann gibt es noch Menschen, über die bisher nicht gesprochen wurde: die Eltern der radikalisierten Jugendlichen. Über sie, aber auch mit ihnen sollten wir schleunigst reden, raten ExpertInnen. Aber das ist eine andere Geschichte. Unsere große investigative Reportage über die bestens vernetzte, hochgefährliche und jederzeit zu Anschlägen bereite Dschihadistenszene lesen Sie in der aktuellen Titelgeschichte. Wir haben sie angesichts der Dramatik der Situation freigeschaltet.

Bleiben Sie gesund,

Ihr Florian Klenk


Aus Dem Falter 1

Nicht nur investigative Recherchen bekommen sie diese Woche geliefert, sondern auch kluge Gespräche. Klaus Nüchtern interviewte den Wiener Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer und sprach mit ihm darüber, wie man Kindern den Terror erklären kann.

Matthias Dusini und Stefanie Panzenböck wiederum sprachen mit einem der profundesten Kenner der Islamistenszene, dem renommierten Islamwissenschafter Rüdiger Lohlker.

Im Medienressort würdigen Anna Goldenberg und Benedikt Narodoslawsky die Pressearbeit der Wiener Polizei in der Tatnacht. Nicht nur am Tatort hat die Wiener Exekutive vorbildlich gearbeitet, sondern auch an den Social Media Accounts. Das ist kein Zufall. Lesen Sie, wie sich die Exekutive auf einen möglichen Anschlag vorbereitet hat.


Corona

Das zweite große Thema dieser Woche ist natürlich die Corona-Pandemie: Nina Horaczek und Gerlinde Pölsler haben mit Ärztinnen und Pflegern auf Intensivstationen gesprochen, die derzeit mit Corona-PatientInnen geflutet werden. Das wenig beruhigende Resultat ihrer Recherchen lautet: Wenn die Zahl der Corona-Neuinfektionen nicht rasch sinkt, droht auf den Intensivstationen bald der Kollaps.

Kollegin Barbara Tóth wiederum hat ein Interview mit der Soziologin Barbara Prainsack geführt, die im bedingungslosen Grundeinkommen eine Antwort auf die Pandemie sieht.


Linktipp

Die Terrornacht stellte für Journalistinnen und Journalisten nicht nur eine menschliche sondern auch eine professionelle Herausforderung dar. Die Ereignisse überschlugen sich, Menschen mussten vor der tödlichen Gefahr gewarnt werden, gleichzeitig konnten wir die Informationen vor allem zu Beginn der Terrornacht nicht überprüfen. Über Fehler und Lektionen aus der Terrornacht diskutiere ich heute um 10h mit meinen KollegInnen Martin Thür (ORF) Corinna Milborn (Puls24) und Clemens Oistric, (heute.at). Sie können das Gespräch hier über den Livestream des Presseclub Concordia mitverfolgen.


Falter Woche

Normalerweise finden Sie in unserer Beilage FALTER:WOCHE tausende Veranstaltungstermine österreichweit sowie einen kommentierten Guide durch das Kulturleben Wiens. Wie bereits im ersten Lockdown erscheint die Beilage trotz geschlossener Theater, Kinos und Konzertsäle weiter und zwar als Kultur-Sonderheft. Die aktuelle Ausgabe bietet ein Interview mit Campino, dem Sänger der Düsseldorfer Rockband Die Toten Hosen, der soeben sein erstes Buch veröffentlicht hat und dieser Tage im Burgtheater auftreten sollte; einen Atelierbesuch beim österreichischen Künstler Markus Schinwald; Einschätzungen lokaler Kulturschaffender zum Lockdown; einen Filmtipp zur Zeit; eine weitere Folge unserer Fotoserie "Leuchtkasten" – und natürlich eine Auswahl des aktuellen Online-Kulturangebots.


Post An Falter Maily

Da uns in den vergangenen Tagen sehr viel Post erreicht hat, möchten wir gerne noch etwas davon mit Ihnen teilen: Frau Hermine O. wünschte dem FALTER.Maily alles Gute zum 1. Geburtstag und versprach, ihr Glas auf jede und jeden von uns zu erheben. Wir bedanken uns sehr herzlich und hoffen inständig, dass die Verfasserin trinkfest ist. Danke auch an Andreas H., der uns schrieb: "Herzlichen Glückwunsch zu einem Jahr Maily! Ich lese es täglich und wenn nicht, dann geht mir was ab." So soll es sein!


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Diskussion zum Thema "Lügenpresse? Die Vertrauenskrise des Journalismus"