De Kinettn

Birgit Wittstock
Versendet am 03.12.2020

haben Sie gut geschlafen? Fällt es Ihnen auch so schwer, morgens, wenn es draußen kalt und dunkel ist, das warme Bett zu verlassen? Stellen Sie sich aber kurz folgendes vor: Sie haben gar kein eigenes, warmes Bett.

Sie rollen jeden Abend so wie viele andere hunderte Menschen Ihren Schlafsack in Hauseingängen, auf Kellerstiegen, in Parks oder Abbruchhäusern aus. Oder Sie stellen sich bei Notschlafstellen an, wo Sie dann mit fremden Leuten ein Zimmer teilen. Viele von ihnen verstehen Sie nicht, wenn Sie versuchen mit ihnen zu reden. Manche sind Ihnen auf den ersten Blick unsympathisch, sie riechen unangenehm, sind laut, jagen Ihnen Angst ein. Kann Ihnen nicht passieren? Das dachten so manche der Leute, die ich vergangene Woche im Zuge meiner Reportage über Wohnungslosigkeit im Lockdown kennengelernt habe.

Michi H. zum Beispiel. Mit ihm bin ich in der Wohnungsloseneinrichtung VinziRast in Meidling ins Plaudern gekommen. Der 48-jährige gebürtige Niederösterreicher, der dort in einer Übergangswohnung lebt, war noch vor vier Jahren Automatisierungstechniker. Er baute und wartete Fertigungsanlagen in Fabriken auf der ganzen Welt. Shanghai, Moskau, Kairo. Jahrelang habe er nur aus dem Koffer gelebt, erzählte er. "Alle glaubten immer, das sei so toll und ich würde die ganze Welt sehen. In Wirklichkeit habe ich nur schwer gearbeitet, Fabrikshallen, Hotels und Flughäfen gesehen und mit der Zeit alle sozialen Kontakte verloren." Irgendwann sei der Ofen aus gewesen. Burnout. Zwei Jahre isolierte er sich und lebte von seinem Ersparten. Im Frühherbst 2016 stand Michi plötzlich auf der Straße. Es kann schnell gehen.

Bei Hilfsorganisationen wie der Caritas befürchtet man, dass es kommendes Jahr vielen ähnlich wie Michi ergehen wird, und sie ihre Wohnung verlieren werden. Aktuell gebe es zwar keinen Anstieg der Obdachlosenzahlen, meinte Klaus Schwerter, Geschäftsführer der Caritas der Erzdiözese Wien, vergangene Woche am Telefon. Doch viele coronabedingte Mietstundungen und aufgeschobene Delogierungen würden sich erst kommendes Jahr bemerkbar machen, wenn sie fällig werden.

Wie vielen Menschen aufgrund der Pandemie Wohnungslosigkeit droht, weiß derzeit niemand. Bei der MieterHilfe, einer kostenlosen Beratungsstelle der Stadt Wien, gingen aber bereits während des ersten Lockdowns rund 7000 Anrufe ein – alles Leute, die sich Sorgen um ihre Wohnsituation machten. Da man auch hier von einem Anstieg der Wohnungslosigkeit ausgeht, fordert MieterHilfe-Chef Christian Bartok eine Ausweitung des Kündigungsschutzes auch bei Privatmietern bis Juli 2021, sowie eine Unterstützung der Vermieter.

Von Wiener Wohnen, der größten Hausverwaltung des Landes, heißt es, es gebe zwar eine Steigerung bei den Mietzinsrückständen, genaue Zahlen habe man aber noch keine. Man versuche, individuelle Lösungen zu finden und habe die Stundung der Mietschulden bis zum 31. März 2021 verlängert.

Es wird also verschiedener Maßnahmen bedürfen, um das Ansteigen der Obdachlosigkeit als Langzeitfolge der Pandemie einzudämmen. Und vielleicht werden auch im kommenden Sommer die zusätzlichen Notquartiere, die die Stadt alljährlich als sogenanntes Winterpaket zur Verfügung stellt, geöffnet bleiben müssen. So wie es Hilfsorganisationen ohnehin schon seit Jahren fordern.

Haben Sie einen schönen Tag,

Ihre Birgit Wittstock


Aus Dem Archiv

Vom Leben auf der Straße lesen Sie in der preisgekrönten Reportage "Ein Jahr mit Günter" von Falter-Autorin Nina Strasser. Ein Jahr lang begleitete sie den obdachlosen Günter, den sie kennengelernt hatte, als sie mit Saskia Wolfsberger eine Nacht lang mit dem Kältebus der Caritas unterwegs war.


Hinweis

Wenn Sie Schlafplätze oder obdachlose Menschen sehen, die nicht temperaturgerecht gekleidet sind, rufen Sie bitte das Kältetelefon der Caritas an. Es ist bis Ende April täglich unter 01/480 45 53 oder per E-Mail an kaeltetelefon@caritas-wien.at erreichbar. Folgende Informationen werden benötigt: Datum, Zeitpunkt, genaue Ortsangabe und Beschreibung der Person(en).


Hörtipp

Joesi Prokopetz und Wolfgang Ambros haben 1975 mit Die Kinettn Wo I Schlof die Wiener Sandler hochleben lassen. Macht immer noch Gänsehaut.


Podcast

Wie gefährlich sind die Muslimbrüder wirklich? Eine groß angelegte Razzia in Österreich mit schweren Beschuldigungen und krachenden Hausdurchsuchungen, wirft Fragen auf. Im FALTER-Radio mit Raimund Löw sind der Nahostkorrespondent Karim El-Gawhary, der Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger, die Außenpolitikexpertin Sherin Gharib und Islamismusforscher Rami Ali zu Gast.


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