Im Außendienst - FALTER.maily #444

Birgit Wittstock
Versendet am 17.02.2021

"Ich mach's, weil es derzeit die einzige Möglichkeit ist, überhaupt etwas zu verdienen", erzählte Andreas G. vergangene Woche am Telefon. G. arbeitet als Dominus – die männliche Entsprechung der Domina – in Wien. Wobei "arbeiten" an dieser Stelle ein irreführender Begriff ist. Schließlich konnte G. genauso wie seine bundesweit rund 8000 vorwiegend weiblichen Kolleginnen, die als Sexarbeiter*innen gemeldet sind, seit dem ersten Lockdown im März des Vorjahres kaum arbeiten. Lediglich vier Monate durften Prostitutionslokale seither offen haben. Tausende Frauen brachte das in schwere Geldnot.

Mit dem Erlass der vierten Covid-19-Schutzmaßnahmenverordnung sind seit vergangener Woche auch körpernahe Dienstleistungen wie Fußpflege, Massage, Kosmetik, Tätowieren, Haareschneiden und Sexarbeit unter Einhaltung von Sicherheitsmaßnahmen wieder erlaubt – Letztere allerdings nur in Form eines Hausbesuchs beim Kunden. Und auch der ist nur in Wien, Niederösterreich, dem Burgenland und der Steiermark erlaubt. Die anderen fünf Bundesländer verbieten Hausbesuche per Landesgesetz. Die Arbeitsstätten der Sexarbeiter*innen bleiben jedoch weiterhin geschlossen, weil die Verordnung Prostitutionslokale unter Freizeit- und Kultureinrichtungen führt.

Was für den Gesetzgeber ein gangbarer Kompromiss ist, bringt für die Betroffenen nicht nur logistische Schwierigkeiten mit sich – "viele Kunden haben Partnerinnen oder Partner zu Hause und auch ein Ausweichen in Hotelzimmer ist derzeit unmöglich", erklärt Andreas G. – viele lehnen Hausbesuche kategorisch ab. Man wisse nicht, was einen in der fremden Wohnung erwarte, erzählt die Sexarbeiterin Maria K. Diebstahl, Vergewaltigung, Betrug, Gewalt – alles sei möglich. Und auch eine Infektion mit Covid-19. Schließlich sind die Kunden nicht an jene hohen Hygienestandards gebunden, die in ihrem Studio gelten würden, sagt Maria K. "Es ist doch eher unwahrscheinlich, dass Kunden ihre Wohnungen desinfizieren."

Auch sind ihre Kunden nicht wie jene der Friseure zu vorhergehenden Coronatests verpflichtet. Es sind die Sexarbeiter*innen, die einmal wöchentlich zum Test antreten müssen. Während der Staat mit der aktuellen Verordnung alle anderen körperlichen Dienstleister mit strikten Hygienevorschriften schützt, verlagert er in diesem Gewerbe Risiko und Verantwortung in den Privatbereich. Und setzt somit eine ohnehin vulnerable Berufsgruppe zusätzlichen Gefahren aus.

Shiva Prugger von der Berufsvertretung für Sexarbeitende fordert deshalb eine Öffnung der Prostitutionslokale. Sexarbeit sei unter strengen Testauflagen sehr sicher, meint sie. "Das größte Geschäft spielt sich derzeit im illegalen, verbotenen Bereich ab, in dem es keine Coronaregeln gibt, denn Sexarbeit lässt sich durch Verbote nicht komplett abstellen. Ist das dem Gesundheitsministerium lieber?"

Von dort heißt es, Ziel der Covid-Maßnahmen sei es, den Kontakt zwischen Menschen zu minimieren, um Infektionen zu vermeiden, weshalb auch Kultur- und Freizeitbetriebe geschlossen bleiben. In den privaten Wohnbereich werde jedoch nicht eingegriffen, deshalb die aktuelle Regelung mit den Hausbesuchen. Die Maßnahmen würden aber – im regelmäßigen Austausch mit Vertreterinnen aus dem Bereich Sexarbeit – laufend evaluiert.

Für Shiva Prugger und Maria K., die Hausbesuche aus Sicherheitsgründen ablehnen, bedeutet das: weiterhin kein Einkommen. Dominus Andreas G. will es riskieren. Kunden hatte er bislang jedoch noch keinen.

Bleiben Sie gesund,

Ihre Birgit Wittstock


Aus Dem Verlag I

Mehr darüber, wie es Sexarbeiter*innen in Wien im vergangenen Coronajahr erging, lesen Sie hier und im aktuellen Falter. Und wenn Sie in Not geratenen Sexarbeiter*innen helfen wollen, können Sie dies über die Spendenaktion "Helfen ist sexy!" der Berufsvertretung Sexarbeit Österreich (BSÖ) oder indem Sie Sexarbeiterinnen-Beratungsstelle Sophie der Volkshilfe Wien unterstützen.


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