Gute Nacht! - FALTER.maily #458

Matthias Dusini
Versendet am 05.03.2021

sind Sie schon wach? Der Journalist Donald G. McNeil Jr. ist es, denn er kann seit geraumer Zeit nicht mehr schlafen. McNeil ist Amerikas wichtigster Medizinjournalist. Vor einem Jahr, als sich Ex-Präsident Donald Trump noch über das "China-Virus" lustig machte, warnte er vor der Pandemie. Seine Geschichten wanderten aus den hinteren Seiten auf das Cover, und McNeil wurde zum Dauergast in Talkshows. Eine zwei Jahre zurückliegende Geschichte wurde ihm nun zum Verhängnis. Nach einer Studienreise nach Peru hatten ihn einige SchülerInnen beschuldigt, sich rassistisch geäußert zu haben. Die Redaktion stellte sich gegen ihn und zwang den Kollegen, seine Kündigung einzureichen.

Nun veröffentlichte McNeil seine Sicht der Dinge. Die Schilderung liest sich wie das Drehbuch für einen Film über den eigenen Untergang. Detailliert dokumentiert er die Gespräche mit der Jugend, ein Musterbeispiel für Wokeness oder Woke, eine Geisteshaltung, die man als Steigerungsform der Political Correctness bezeichnen könnte. Der Reiseführer beschimpfte in Peru niemanden als "N…", sondern zitierte das Wort lediglich in einem indirekten Zusammenhang. McNeil äußerte auch Bedenken gegenüber dem Verbot der Cultural Appropriation, also dass sich etwa weiße KünstlerInnen Elemente schwarzer Kultur aneignen dürften.

Klingt alles sehr akademisch, hat aber eine tragische Pointe. Einem Schauprozess vergleichbar, wollte die New York Times ihren Mitarbeiter dazu bringen, öffentlich Selbstkritik zu üben. McNeil sollte sich für etwas entschuldigen, das er in seinen Augen gar nicht getan hatte. "Ich bin katholisch erzogen worden und daher jederzeit bereit, Prügel zu beziehen. Aber nur für die Sünden, die ich begangen habe", schreibt McNeil. Hat sich die für ihre Sachlichkeit berühmte Times in einen Wachtturm der Political Correctness verwandelt? Schreib 100 Mal: Ich bin ein Rassist, ich bin …!

Das Unternehmen legte McNeil jedenfalls ein Statement vor, in dem er seinen "freiwilligen" Pensionsantritt begründen sollte. "Donald kam 1974 zur Times und hat vier Jahrzehnte lang guten Journalismus gemacht. Aber nun stimmt er zu, dass dies der richtige nächste Schritt sei." Das "stimmt er zu" wollte Donald dann doch gestrichen haben.

Halten Sie die Augen offen,

Ihr Matthias Dusini


Hörtipp

Die US-Musikerin Erykah Badu lieferte 2008 in ihrem Song "Master Techer" das Stichwort: "Stay Woke". Gemeint ist damit die gesteigerte Sensibilität gegenüber Ungleichheiten, zwischen schwarz und weiß, Mann und Frau. Badu selbst war auch nicht immer die Wachste. In einem Interview fand die Künstlerin positive Seiten an Adolf Hitler: "Er war ein guter Maler."


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