Entharmlosung - FALTER.maily #467

Florian Klenk
Versendet am 16.03.2021

kürzlich habe ich meinen Kindern ein fabelhaftes Buch vorgelesen. Es heißt "Amy und die geheime Bibliothek" und handelt davon, dass eine Mutter bei der Schulbibliothek ihrer Tochter vorstellig wird, weil sie will, dass ein Buch aus den Regalen verschwindet. Es ist das Lieblingsbuch der Schülerin Amy, sie hat es mehrmals gelesen und protestiert gegen die Zensur. Vergebens. Das Werk kommt auf den Index, die Schulleitung beugt sich dem Druck. Das Buch sei "respektlos und unmoralisch".

Es bleibt nicht bei dem einen Buch. Immer wieder fliegen Bücher aus den Regalen, weil sie für Kinder unpassend seien. Amy wehrt sich auf ihre Art. Sie stopft die verbotenen Bücher in einen Spind und eröffnet eine geheime Bibliothek verbannter Bücher. Zugleich unterlaufen die Kinder das Zensursystem der Helikopter-Eltern. Sie melden in dem dafür eingerichteten Meldesystem alle Bücher als bedenklich an, "Alice im Wunderland", "Herr der Ringe", "Harry Potter" - und stopfen sie in ihren Spind.

Amys Schicksal ist nicht erfunden. Wie Alan Gratz, der Autor des Buches beteuerte, sind Säuberungen von Schulbibliotheken in den USA keine Seltenheit mehr.

Ich musste an Amy denken, als ich letzte Woche durch die sozialen Medien surfte. Denn auf Twitter verfasste Teresa Bücker, Kolumnistin des Magazins der Süddeutschen Zeitung, zwei Tweets. Anlässlich des 90. Geburtstages des Kinderbuchautors Janosch ("Oh, wie schön ist Panama") entdeckte sie bei seinen Figuren sexualisierte Gewalt: "Als ich vor einiger Zeit meiner Tochter die Geschichte vom Frosch und der Tigerente vorlesen wollte, fiel mir auf, dass der Frosch ein Schweigen der Ente als 'Ja' zum Küssen auslegt. Küssen ohne Einverständnis. Das ist nicht kindgerecht. Kinder müssen Nein-Sagen lernen". Und in einem zweiten Tweet Bückners schob sie nach: "Und ehrlich gesagt habe ich mich in diesem Moment wahnsinnig geekelt und gedacht: 'What the f*ck did I just read?' Das kann nicht im Ernst eine Kindergeschichte sein, dass eine Figur an einer schweigenden Figur sexuelle Handlungen vornimmt."

Man könnte das jetzt natürlich einwenden, dass die Tigerente aus Holz geschnitzt ist, daher nicht "Ja" sagen kann. Man könnte auch anmerken, dass das Küsschen des Frosches an seinem Spielzeug keine "sexuelle Handlung" ist, zumindest wäre ich nie auf die Idee gekommen, es so zu sehen.

Kaum hatte ich den Tweet gelesen, folgte die nächste Meldung. Die "Dr. Seuss Enterprises", die Rechteverwalter des Autors Theodor Seuss Geisel (geboren 1904 in Springfield, Massachusetts) gaben bekannt, dass sie "nach monatelangen internen Diskussionen mit Experten und Erziehern" beschlossen hätten, sechs Bücher von Dr. Seuss wegen "rassistischer oder anderweitig verletzender Bilder nicht weiter zu verkaufen". Betroffen sind einige zwischen 1937 und 1976 entstandene Titel. Begründung: In einem Buch werde eine asiatische Person porträtiert, die einen kegelförmigen Hut trägt, Ess-Stäbchen in der Hand hält und aus einer Schüssel isst. In "If I Ran the Zoo" enthält eine Zeichnung zweier barfüßiger Afrikaner in Baströcken, die ihr Haar auf dem Kopf zusammengebunden haben. Und in einem anderen Buch wird ein Fisch "Eskimo" genannt.

Man könnte das weglächeln. So wie man weglächeln könnte, dass Walt Disney nun die "Muppets Show" mit einer Trigger-Warnung versehen hat, weil dort "röm töm, töm, töm" rassistische "Stereotype" reproduziert würden (sorry, schwedischer Koch). Die Show sei voll von "negativen Darstellungen und/oder falscher Behandlung von Personen oder Kulturen", heißt es. "Diese Stereotypen waren damals falsch und sind es jetzt."

Applaus, Applaus, Applaus!

Ihr Florian Klenk


Lesetipps

Eigentlich ist diese Entharmlosung von Kinderbüchern natürlich nicht zum Lachen, sondern die Gedankenwelt eines Sektierertums, das Kinder und vor allem ihre Eltern für Vollidioten hält und entmündigt. Berechtigte Anliegen (Kampf gegen sexuelle Übergriffe, Kampf gegen Rassismus) werden gekidnappt und durch solche Aktionen in der öffentlichen Wahrnehmung diskreditiert.

Bedrohlich sind natürlich nicht die Bücher und darin enthaltenen Fantasien von Gut und Böse. Angst flößen mir jene Menschen ein, die zwischen Fiktion und Realität, zwischen einem literarischen Plot und dem richtigen Leben nicht zu unterscheiden wissen. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen viel Vergnügen mit unserer Buchbeilage, dem Bücherfrühling. Klaus Nüchtern und Kirstin Breitenfellner haben ihn editiert, natürlich auch mit Empfehlungen für Kinder- und Jugendbücher. Die – wie ich meine – beste Literaturbeilage des Landes liegt in allen Buchhandlungen auf und kann unter diesem Link auch online gelesen werden. Die großartigen Illustrationen in der Beilage stammen übrigens von Schorsch Feierfeil.


Aus Dem Falter

Das Feuilleton wartet diese Woche mit zwei ganz besonderen Interviews mit SchriftstellerInnen auf. Martin Pesl sprach mit der ungarischen Autorin Krisztina Tóth, die über eine unheimliche Hetzkampagne des Orbán-Regimes gegen ihre Person erzählt. Stefanie Panzenböck sprach mit dem Autor und ZEIT-Kolumnisten Harald Martenstein, der über seinen beklemmenden neuen Roman, aber auch über die Exzesse der Woke-Kultur erzählt.


Bekenntnis Der Woche

Letzte Woche hatte ich verdammt Glück. Ich habe anstatt auf Twitter zu schauen mit meinen Kindern einen Froschteich gegraben. So ist mir der Shitstorm gegen Harry Bergmann, den Falter und gegen meine Person entgangen.

Bergmann hatte im Falter eine umstrittene Kolumne geschrieben, in der er bezeugte, auf der Corona-Demo eine Anti-Israelische Parole von Linksextremisten gehört zu haben. Mehr hat es nicht gebraucht. Binnen weniger Stunden wurde der Sohn von Auschwitzüberlebenden zum "fragilen alten weissen Mann" erklärt, der den Rechten in die Hände spiele.

Bergmann wehrte sich dagegen und kritisierte in einem Traum das Twittergericht. Das wiederum nervte seine Kritikerin, die Politologin und gelegentliche Falter-Autorin Natascha Strobl, die sich angesprochen fühlte. Sie protestierte gegen ihre Herabwürdigung und geriet dafür ihrerseits in einen Shitstorm von Rechtsextremen, der darin endete, dass sie ihren Account stilllegte und sogar Solidarität von der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken erhielt.

Um die Wogen zu glätten und aus der gereizten Gesellschaft wieder eine offene zu machen, haben wir die von uns geschätzten Persönlichkeiten Bergmann und Strobl an einen Tisch gebeten. Wir sprachen über die toxische Plattform Twitter, über Hass im Netz und die Wichtigkeit, einander besser zuzuhören. Es war ein kluges Gespräch zweier wichtiger Menschen. Und eine Case-Study über den Diskurs in Sozialen Medien.


Falter Woche

Das Wiener Performance-Festival Imagetanz findet dieser Tage online statt, unter anderem mit einem interaktiven Stück von Henrike Iglesias. In der Falter:Woche spricht das queerfeministische Kollektiv über die Herkunft seines eigenwilligen Namens, politisch korrekten Humor und feministisches Pommes-Essen. Das Stichwort "Feminismus" fällt auch im Gespräch mit dem Jazzer Christian Muthspiel, der zweiten großen Geschichte in der aktuellen Ausgabe unserer Kultur- und Programmbeilage. Die Musikerin Sigrid Horn blickt auf ihr Corona-Jahr zurück, Barbara Fuchs erzählt die Hintergründe einer groß angelegten Plakataktion entlang der Gürtel-Ausgehmeile, und Christopher Mavrič präsentiert Fotos aus seinem neuen Buch "Stille Stadt. Wien und die Corona-Krise". Dazu, wie immer, Film- und Kunsttipps sowie alle aktuellen Veranstaltungstermine, online und in echt.


Podcast

In der neuen Folge von "Scheuba fragt nach..." hofft der Satiriker auf einen Termin bei Gernot Blümel, spekuliert über von Sebastian Kurz nicht gelesene HC Strache-Mails und spricht mit Oscar Bronner, Gründer und Herausgeber der Tageszeitung Standard, über Aufdeckungs-, Zudeckungs- und Tischdeckungs-Journalismus.


Aus Dem Verlag

Corona – und dann? Wie geht es mit dem Leben, dem Arbeitsmarkt und Sozialstaat nach der Pandemie weiter? Verfallen wir in alte Muster? Und wo gibt es Spielraum für Erneuerung und Verbesserung? Der Autor und Sozialwissenschaftler Bernd Marin gibt in seinem neuen Buch "Die Welt danach", erschienen im Falter Verlag, Antworten auf die brennendsten Fragen unserer Zeit! Sie erhalten das Buch ab sofort im Faltershop.

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