Selektive Bürgerbeteiligung - FALTER.maily #499

Birgit Wittstock
Versendet am 23.04.2021

"Jetzt seid ihr gefragt! Gestalten wir gemeinsam den Naschmarkt-Parkplatz", so bewarb die rote Planungsstadträtin Ulli Sima am Montag auf Facebook ihr aktuelles Herzensprojekt, die geplante Markthalle auf dem Naschmarktparkplatz. An die 10.000 Haushalte in den angrenzenden Bezirken Wieden, Margareten und Mariahilf lud Sima per Postwurfsendung ein, sich mit ihren Ideen für die Gestaltung des 12.000 Quadratmeter großen Asphaltplatzes einzubringen, auf dem bislang wochentags entweder Autos parken oder am Samstag die Flohmarktverkäufer ihre Standeln aufbauen. Das Bürgerbeteiligungsverfahren ist nun offiziell eröffnet und läuft bis Anfang Juni. Die Ergebnisse, so heißt es auf der Informationsseite der Stadt, würden "eine Grundlage für den Gestaltungswettbewerb" bilden.

Die ersten Reaktionen auf Facebook zeugen nicht von großer Begeisterung. Was zum einen an dem Rendering liegen mag, mit dem die Stadträtin das Projekt seit vergangenen Herbst bereits mehrfach illustriert hat (Carport und Tankstelle waren die netteren Kommentare dazu).

Zum anderen stört viele Poster die Tatsache, dass der Bau der Markthalle bereits beschlossene Sache ist: "Wo kann man ankreuzen, dass man keine Markthalle möchte?", "Geht das auch ohne Markthalle?" und "bitte bitte bitte bauts mir kein dach vors fenster" lauten einige Wortmeldungen. Und: Wird hier "mit viel Trara und viel Steuergeld zu kaschieren versucht, dass den Bürgern wieder einmal ein unsinniges Projekt vor die Nase geknallt wird, über das sie gar nicht abstimmen dürfen?", fragt ein Kommentator. Pro forma-Bürgerbeteiligung? Was sagt die Stadt dazu?

"Derartige Projekte bedürfen immer einer sorgfältigen Balance zwischen repräsentativer Demokratie und Bürgerbeteiligung", meint Wiens Planungsdirektor Thomas Madreiter (SPÖ). Gewählte Politiker müssten aber eben auch gewisse Entscheidungen treffen, das sei schließlich ihr Job. "Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger jedoch so viel wie möglich daran beteiligen." Dennoch: "Ein solcher Vorbereitungsprozess ist nicht notwendigerweise ein basisdemokratischer Abstimmungsprozess." Dafür brauche es, sagt Madreiter, nämlich andere Verfahren, die repräsentative Abstimmungen ermöglichen.

Wo wir bei einem Grundproblem von Bürgerbeteiligungsverfahren wären: Der Frage, wessen Wünsche umgesetzt, wessen Meinungen gehört und wessen Bedürfnisse berücksichtigt werden? Kurz: Wer sind die Bürgerinnen und Bürger, die sich beteiligen?

Fragt man Thomas Ritt, Kommunalpolitikchef der Wiener Arbeiterkammer, so würden sich vor allem jene Gehör verschaffen, denen es ohnehin gut gehe. "In Wien zeigt sich wie in vielen anderen Großstädten, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung nicht mehr automatisch aktiv am Stadtleben teilnimmt." Menschen etwa, die mit Armut kämpfen, die aufgrund mangelnder Bildung oder Sprachkenntnissen nicht öffentlich ihre Meinung äußern, oder jene, denen schlichtweg die Instrumente fehlen würden. "Hat man keinen Job oder andere Lebensprobleme, ist es einem wohl eher egal, ob Bäume gepflanzt werden oder eine Markthalle gebaut wird." Mit einer Postwurfsendung, Facebookpostings und Info-Veranstaltungen erreicht man diese Leute nicht. "Es ist teuer und aufwendig, die Menschen, die sich nicht beteiligen wollen und ohnehin aufzeigen zu suchen und zu aktivieren. Und es kann scheitern", sagt Ritt.

Bürgerbeteiligung ist also immer selektiv. Beidseitig.

Ihre Birgit Wittstock


Aus Dem Falter

Mehr zur geplanten Markthalle lesen Sie in der Analyse unseres Architekturkritikers Maik Novotny sowie im Interview, das wir vergangene Woche mit Uli Sima (SPÖ) geführt haben und das Sie ebenfalls im FALTER-Radio in voller Länge nachhören können.


Eine Offene Frage

Wohnen in Wien wird immer teurer – ein Trend, der sich während der Corona-Pandemie noch weiter verschärft. Wie kam es dazu und was tun gegen die unleistbaren Wohnungspreise? Meine Kollegin Soraya Pechtl vom FALTER.morgen-Team hat diese Frage zwei Experten unterschiedlicher ökonomischer Denkrichtungen gestellt: Franz Schellhorn, dem Leiter des wirtschaftsliberalen Thinktanks Agenda Austria, und Emanuel List, der zum Thema Wohnkosten im Magazin des sozialliberalen Thinktanks Momentum publiziert. Ihre Antworten fielen erwartungsgemäß sehr unterschiedlich aus, nur in einem Punkt waren sie sich einig: Der Ausbau des sozialen Wohnbaus sei eine sinnvolle Maßnahme, um die Immobilienpreise und Mieten zu reduzieren.


Falter Woche

Auch Hollywood bleibt von der Pandemie nicht verschont: Die Verleihungszeremonie der 93. Oscars am Sonntag wird erstmals remote stattfinden. Und auch sonst ist vieles anders: Mit Chloé Zhao und Emerald Fennell treten zum ersten Mal mehr als eine Filmemacherin in der Kategorie "Beste Regie" an. Bis zur Diversität ist es noch ein langer Weg, doch Frauen sind heuer bei den Academy Awards auf der Überholspur, wie Michael Omasta und Sabina Zeithammer in ihrer Vorschau zeigen.


Aus Dem Verlag

Feuilletonchef Matthias Dusini hat einen Reiseführer geschrieben: Hotel Paradiso stellt 13 Reiseziele in Mitteleuropa – in Österreich, Italien, Tschechien und der Schweiz – vor, allesamt mit der Bahn erreichbar. Was die Orte miteinander verbindet, ist, dass ihre Entstehung an faszinierende Vorhaben geknüpft war: Utopien der Ökologie und Kultur, der Produktion und Meditation. Das Buch ist im Falter Verlag erhältlich.


Das FALTER-Abo bekommen Sie hier am schnellsten: falter.at/abo
Wenn Ihnen dieser Newsletter weitergeleitet wurde und er Ihnen gefällt, können Sie ihn hier abonnieren.
Weitere Ausgaben:
Alle FALTER.maily-Ausgaben finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,17 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!