It's the bribery, stupid! - FALTER.maily #1055
Ich würde meinen, wir müssen die Geschichte über Sebastian Kurz fabelhaften Aufstieg zum ÖVP-Chef und Kanzler grundsätzlich ...
wie wunderbar ist es, liebe Leserin, lieber Leser, an einem luftigen Mainachmittag am Computer zu sitzen und im Schatten des draußen zart über die knospende Pracht regnenden Apfelblütenschnees Ihnen die Zustände in unserem prachtvollen Ländchen zu schildern! Dass dieser Begrüßungssatz nicht ganz der Wahrheit entspricht, muss kaum extra hinzugefügt werden. Immerhin hoffe ich, Sie wissen meine nichtsdestoweniger wahrgenommene Pflicht als Mailyschreiber zu würdigen.
Die Wahrheitsfrage tritt derzeit ins Zentrum der politischen Diskussion. Auch das ist natürlich nicht wahr. Aber die Wahrheitsfrage beschäftigt die Öffentlichkeit, die sich wahrlich gerne beschäftigen lässt. Er habe immer versucht, die Wahrheit zu sagen, teilt uns der Bundeskanzler mit. „Ich habe immer versucht, die Wahrheit zu sagen und alle meine Erinnerungen mit dem Untersuchungsausschuss zu teilen“, sagte er zum Beispiel vergangene Woche in der ZiB 2 in einem Interview bei Armin Wolf, das er als Beginn seiner großen Entlastungsoffensive anlegte, die er am Sonntag in einem Interview in der Sonntagskrone krönte.
Der zitierte Satz ist insofern charmant, als er einerseits ein Bekenntnis beinhaltet und andererseits sich selbst widerlegt. Das Bekenntnis steckt im Wort „Versuch“ und zeugt von wahrer christlicher Bescheidenheit, denn wie wir wissen, ist unser Kanzler ein direkt vom Herrn gesandter Segen für dieses Land. „Herr, wir danken dir so sehr für ihn“, rief ihm ein US-amerikanischer evangelikaler Prediger einst in der Stadthalle zu, der Kardinal war zugegen, und der Kanzler versank nicht vor Scham in den Erdboden, sondern stimmte in den Preis des Herrn und damit in den eigenen mit ein.
Gewiss doch. Wer behaupten würde, er sage stets die Wahrheit, der lügt schon mit dieser Behauptung, denn wir alle wissen, dass das niemand schafft. Andererseits kann der zweite Teil des Kanzlersatzes schon ohne Lektüre des Untersuchungsausschuss-Protokolls als unwahr qualifiziert werden. So gut wie alle Zeugen, die keine türkisen Parteigänger sind, versichern, der Versuch des Sebastian Kurz, „alle Erinnerungen“ mit der im Ausschuss anwesenden Gemeinschaft der Wahrheitssuchenden „zu teilen“, sei kein solcher gewesen, sondern eher der Versuch, diese Gemeinschaft möglichst effizient und zugleich rechtskonform zu frotzeln.
Rechtskonform heißt in diesem Fall, eben nicht so zu lügen, dass ein Gericht später zum Schluss kommt, es habe sich um den Tatbestand der falschen Zeugenaussage gehandelt. Sehen Sie, liebes Publikum, so werden wir vorgeführt. Wir sollen nicht mehr die Handlungen dieses Kanzlers beurteilen, nicht seine Postenschiebereien, seine Freunderlwirtschaft, seine dubiosen politischen Familienverhältnisse, seine skandalöse Europapolitik, seine verheerende Corona-Performance samt intransparenter Wirtschaftshilfe, seine desaströse Medienpolitik, seine Parlamentsverachtung, sein Justizverächtlichmachen, seinen Flaggenhissmissbrauch, nein, wir sollen uns einzig und allein auf die semantische Frage zurückziehen, die dann ein Gericht, so hofft er – vermutlich nicht einmal zu Unrecht – zu seinen Gunsten entscheiden wird, ob er nämlich bei seinem grundehrlichen Versuch, die Wahrheit zu sagen, gescheitert ist oder nicht. Wonach wir wieder Gott für diesen unbefleckten Kanzler danken dürfen.
Erinnern Sie sich an Fritz Teufel? Dieser deutsche 1968er-Kommunarde und Anarchist mit dem sprechenden Namen, in allem die absolute Gegenfigur zum Hl. Bundeskanzler, stand, nein saß einst vor Gericht. Als ihn der Richter aufforderte, aufzustehen, erhob er sich umständlich und bemerkte: „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient!“
Ich wünsche Ihnen eine wahrhaft schöne Woche.
Ihr Armin Thurnher
Auch die Seuchenkolumne setzt sich derzeit naturgemäß mit dem Wahrheitsproblem auseinander; in medienkritischer, türkiskritischer, aber auch in philosophischer Absicht. Und die Ausführungen des Epidemiologen Robert Zangerle haben sich für denkende Menschen längst als kritisches Korrektiv zur Seuchenwahrnehmung und Seuchenpolitik des Landes etabliert. Das wird auch nach den kommenden Öffnungen leider eine Zeitlang bleiben. Ein (kostenfreies) Abonnement der Seuchenkolumne macht sich jedenfalls bezahlt.
Sogar in internationalen Medien wird die Seuchenkolumne bereits zitiert. Sowohl der Chefredakteur des Falter als auch dessen Herausgeber waren am Wochenende als Auskunftsgeber über Österreichs in zunehmend fragwürdig werdenden Bundeskanzler gefragt. Florian Klenk sprach im Schweizer Radio SFR 4, ich durfte auf WDR5, dem reichweitenstärksten deutschen Radio Auskunft geben.
Wenn wir schon von Bundeskanzlern reden. Franz Vranitzky war ein solcher, und er spricht mit dem Journalisten Herbert Lackner, Autor des bemerkenswerten Buchs "Rückkehr in die fremde Heimat" über den Umgang in der Nachkriegszeit mit von den Nazis vertriebenen Österreichern. Diese Falter-Radio Episode ist der Mitschnitt einer Veranstaltung des Bruno Kreisky Forums Wien vom 27. April 2021.
Noch einmal in fast eigener Sache. Seit langem lese und bewundere ich die US-amerikanische Politologin und Philosophin, Feministin und Ökosozialistin Nancy Fraser. Kürzlich durfte ich mit ihr ein öffentliches Interview führen, das Sie jetzt bei Interesse auf Youtube nachsehen können.
Einfach schön...
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