Stichzwang - FALTER.maily #575

Matthias Dusini
Versendet am 26.07.2021

Klara hat keinen Stich. Seit dem Ausbruch der Pandemie arbeitet sie in einem Südtiroler Krankenhaus und will sich nicht impfen lassen. In unfreundlichem Ton hatte der Südtiroler Sanitätsbetrieb auf ein Dekret des italienischen Ministerpräsidenten hingewiesen, das die Impfpflicht des Gesundheitspersonals vorsieht. Hunderte Pflegekräfte weigern sich, die Vorschrift zu befolgen. Wer keine gesundheitlichen Gründe nachweisen kann, wird suspendiert, das heißt, er bzw. sie darf das Krankenhaus nicht mehr betreten und bekommt keinen Lohn.

Auch in Österreich wird die Impfpflicht diskutiert. Zu viel hängt davon ab, wieviele Menschen immun gegen das Virus sind. Ohne eine Rate von 85 Prozent könnte ein Herbst mit neuerlichen Einschränkungen bis hin zum Lockdown bevorstehen. Warum also nicht alle zu dem Stich zwingen, wie das Mario Pulker, der Gastronomie-Obmann in der WKÖ, unlängst anregte?

Ein Blick in die Geschichte lässt an der Wirksamkeit der Maßnahme zweifeln. Nach der Pockenepidemie 1870/71 beschloss der Deutsche Reichstag das Reichsimpfgesetz – und löste damit eine beispiellose Protestbewegung aus. Gegner gründeten Vereine und Zeitschriften und gingen auf die Straße. Obwohl es in Österreich kein vergleichbares Gesetz gab, formierte sich auch hier Widerstand. „Bei dem Impfen gehen mehr Menschen zu Grunde als an den wirklichen Pocken,“, warnte das Grazer Volksblatt 1885, auch dies ein vertrautes Argument. Sind Lockdown und Impfnebenwirkungen schlimmer als die Krankheit?

Dabei geht es immer nur in zweiter Linie um die Wissenschaft, sondern vor allem um staatliche Willkür. Um 1900 mussten die New Yorker Ärzte unter Polizeischutz in die Mietshäuser italienischer und irischer Einwanderer, denn die Minderheiten wollten den Übergriff nicht dulden. „Impfdebatten sind Diskurse über Machtverhältnisse“, gibt die US-Publizistin Eula Biss zu bedenken.

Auch das italienische Krankenhauspersonal wehrt sich gegen Anmaßung. Pfleger und Ärztinnen haben schlimme Monate hinter sich und erlebten Corona als Übergang vom Frieden zur Kriegsmedizin. Ausgelaugt und ohne außergewöhnliche Vergütungen bekamen sie dann die nächste Schikane zu spüren: Impfen! Man nennt so etwas den Tropfen, der das Reagenzglas zum Überlaufen bringt.

Ihr Matthias Dusini


Aus Dem Archiv

Warum sind die Impfgegner nicht mehr in den Armenvierteln, sondern in den begüterten Bezirken zu finden? Warum war die Kampagne gegen die Kinderlähmung so erfolgreich? Warum haben ausgerechnet die Nationalsozialisten den Zwang abgeschafft? Hier finden Sie einen ausführlichen Überblick über die Geschichte des Impfens.


Falter Morgen

Die Wiener NEOS schlagen vor, kriminelle und illegal aufhältige Fremde mit einem Betretungsverbot für gewisse Ort zu belegen. In unserem Frühnewsletter, dem FALTER.morgen, haben wir über diesen Vorschlag berichtet. Wie bei vielen Dingen ist auch diese Sache ein wenig komplizierter, als es auf den ersten Blick klingen mag. Soraya Pechtl argumentiert dagegen, Florian Klenk dafür.


Kolumne

Am vergangen Donnerstag waren es genau zehn Jahre. Der junge norwegische Friedensaktivist Bjorn Ihler erinnert sich, wie er Schüsse hörte. Zuerst dachte er noch, jemand hätte ein Feuerwerk gestartet bis ein Opfer direkt vor seinen Augen erschossen wurde. „Selbst als ich das Blut sah, konnte mein Gehirn die Information noch nicht verarbeiten.“ Der norwegische Terrorist Anders Behring Breivik tötete 75 Menschen. Die rechtsextreme Szene feiert ihn bis heute als Helden - und sie wächst. Unsere Kolumnistin Julia Ebner erklärt die Verschwörungsmythen, die Breivik antrieben, und die unter Rechtsextermisten heute noch die gleichen sind - weiterentwickelt haben sich die Strategien und Taktiken.


Das FALTER-Abo bekommen Sie hier am schnellsten: falter.at/abo
Wenn Ihnen dieser Newsletter weitergeleitet wurde und er Ihnen gefällt, können Sie ihn hier abonnieren.
Weitere Ausgaben:
Alle FALTER.maily-Ausgaben finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,17 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!