Eine Frage der Moral - FALTER.maily #1051
Anstand und Moral haben sich in der Debattenkultur einen fragwürdigen Ruf erworben. Wenn Argumente fehlen, kann man sich immer noch auf die ...
Welche Entscheidungen haben Sie heute getroffen? Die meisten waren vielleicht alltäglicher Natur – wähle ich diese oder jene Route nachhause, esse ich das eine oder das andere, spreche ich ein Problem an oder nicht –, doch eines hat der Großteil von ihnen gemeinsam: Sie enthalten eine Unsicherheit, was die Zukunft betrifft. Mal ist diese Unsicherheit erwartbar, – bei beiden Routen kommen Sie nachhause, die eine dauert möglicherweise etwas länger –, mal nicht: Sie haben zum ersten Mal ein Konflikt mit dem Vorgesetzten, was passiert, wenn Sie es ansprechen? Eine neue Situation erfordert neue Strategien.
Die Psychologie unterscheidet zwei Arten, wie Menschen auf Unsicherheit reagieren: Die Exploration, also die Suche nach neuen Alternativen, und die Ausnutzung bereits bekannter Lösungen. Ein Team von Forschenden der Universität von New South Wales im australischen Sydney hat sich in einem neuen Paper, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Journal of Experimental Psychology, nun angesehen, ob es bei der Entscheidung, wie man auf Unsicherheit reagiert, einen Unterschied macht, ob Menschen diese Unsicherheit gewohnt sind oder nicht.
Das ist eine Frage von politischer Relevanz, man denke etwa an die Corona-Krise (eine plötzliche Veränderung, die Unsicherheit brachte und Entscheidungen forderte) oder die Erderhitzung, die vergleichsweise langsam vonstattengeht. Warum gehen wir plötzlich Toilettenpapier einkaufen, ignorieren aber vielfach das sich verändernde Klima?
In der australischen Experimentreihe mussten die Teilnehmenden in einem Computerspiel Chemikalien an Aliens verkaufen. Die Regeln, nach denen die Aliens kauften und die Spielerinnen und Spieler somit gewinnen konnten, veränderten sich in den verschiedenen Experimenten: Mal blieben sie logisch, mal waren sie völlig unberechenbar.
Das Ergebnis: Waren die Regeln anfangs logisch und änderten sich dann plötzlich, so suchten die Spielenden nach neuen Strategien – vergleichbar etwa mit der Reaktion auf die Corona-Krise. Waren die Regeln jedoch von Anfang unberechenbar, blieben die Spieler eher bei ihren Strategien. Die Klimakrise wäre ein solches Beispiel.
Es braucht plötzliche Veränderungen, um nach neuen Entscheidungsstrategien zu suchen, schlussfolgern die Autoren. Ob es dann langfristig so bleibt, ist allerdings eine andere Frage.
Gute Entscheidungen wünscht
Ihre Anna Goldenberg
Apropos Entscheidungsträgheit: Seit 31 Jahren weiß die Menschheit um den menschengemachten Klimawandel und seine Konsequenzen; 31 Jahre lang ließ sie dieses Wissen jedoch nicht nur ungenutzt, sondern hat das Problem noch viel schneller viel größer gemacht als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 1990 annahmen, schreibt Benedikt Narodoslawsky im aktuellen FALTER.natur-Newsletter. Und er nennt die Namen jener Politikerinnen und Politker, die diesen Stillstand auf Bundesebene in erster Linie zu verantworten haben. Der nächste Newsletter erscheint am Freitag, hier können Sie ihn kostenlos abonnieren.
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