Reise mit Pasolini - FALTER.maily #603

Michael Omasta
Versendet am 27.08.2021

"Die Strände meiner Heimat sind jetzt die Strände von Wien, München und Ulm", schrieb Pier Paolo Pasolini über eine Reise, die er 1959 um ganz Italien herum unternahm. Dabei steckte der Fremdenverkehr damals noch in den Kinderschuhen von Nachkriegszeit und Wiederaufbau. Zuletzt, vor der Pandemie, zählte man in Italien über 5,6 Millionen Touristen allein aus Deutschland. Nicht mal ein notorischer Kulturpessimist wie Pasolini hätte sich eine solche Zahl wohl jemals träumen lassen.

Der deutsche Regisseur Pepe Danquart zeichnet in seinem Film "Vor mir der Süden" die Reise dieses visionären Filmemachers und Schriftstellers nach. 60 Jahre nach Pasolini macht er sich, wie dieser, in einem klapprigen Fiat Millecento, auf den Weg: vom ligurischen Badeort Ventimiglia den ganzen Stiefel hinunter und von Sizilien wieder zurück bis nach Triest. Insgesamt gut 7500 Kilometer. Die einzelnen Stationen seines dokumentarischen Roadmovies gibt eine mehrteilige Reportage vor, die Pasolini damals für die Mailänder Zeitschrift Successo verfasst hat; später erschien sie in Buchform ("La lunga strada di sabbia") und liegt seit wenigen Jahren auch in deutscher Übersetzung vor: "Die lange Straße aus Sand" (Verlag Corso).

Der Film ist toll, nicht nur der Bilder, sondern vor allem der Menschen wegen, die er findet. Niederschmetternd auch. Tourismus und Konsumismus haben ihre Spuren hinterlassen, die meisten Interviewten beschreiben Italien als ein wirtschaftlich wie kulturell ausgehöhltes Land. "Bei uns war immer schon Krise", behauptet eine alte Sizilianerin, "nicht erst heute. Sie war nie weg."Und ein Einwohner des Küstenortes Praia de Mira klagt, dass es in der gesamten Region überhaupt keine Infrastruktur mehr gebe, nicht einmal ein Krankenhaus: "Das ist die Politik in Kalabrien, hier gibt es nur noch Badestrände."

Dazwischen kommt in mehreren der Begegnungen wie zufällig die Sprache auch auf Pasolini. Ein junger Hafenarbeiter in Genua outet sich als Pasolini-Leser und meint, der Systemkritiker habe mit seinem Leben dafür bezahlt, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Und ein alter Herr, der als Kind mit Pasolini gekickt haben will, sagt aus dem Stand eines von dessen Gedichten auf: Es handelt von denen, die über das Meer kommen, "in indischen Kleidern" und "amerikanischen Hemden".

Damit spinnt der Film ein Thema weiter, das auch Pasolini bereits beschäftigt hat: Flucht und Migration. Damals waren es Süditaliener, die sich im industrialisierten Norden eine bessere Zukunft erhofften. Dort nannte man sie "Afrikaner", erinnert sich die Pasolini-Schauspielerin Adriana Asti, die Danquart in Rom besucht. Heute natürlich sind es tatsächlich vor allem Menschen aus Afrika, die unter Lebensgefahr übers Meer nach Italien flüchten. "Vor mir der Süden" läuft ab heute in den heimischen Kinos, in Wien unter anderem im Admiral und Votiv.

Ihr Michael Omasta


Lesetipp

Es gibt viele Filmschaffende, die sich auch zum Schreiben berufen fühlen. Das ist nicht immer von Vorteil. Filmemacherlegende Werner Herzog hingegen veröffentlicht nur alle paar Jahre ein neues Buch, schließlich braucht er seine Zeit und Konzentration zum Filmemachen. Und so ist jetzt, nach langer Pause, "Das Dämmern der Welt" (Hanser Verlag) erschienen: eine 120 Seiten kurze Novelle, deren Protagonist, ein japanischer Soldat, eine Insel im Pazifik auch noch Jahre nach Ende des Krieges verteidigt.


Hörtipp

Der sogenannte Stummfilm war bekanntlich niemals stumm. Daran erinnert schon der Titel des traditionell letzten Open-Air-Kinos der Saison, "Stumm & Laut", das seit Donnerstag am Columbusplatz in Wien-Favoriten stattfindet. An vier Abenden werden dort Stummfilme mit elektronischer Live-Musikbegleitung gezeigt, unter anderem "Café Elektric" mit Marlene Dietrich oder ein Slapstick-Programm mit drei Frühwerken von Charlie Chaplin.


Theater

Auch in den Theatern gehts jetzt wieder richtig los: Im starken Kontrast zu den großen Coronalöchern der vorigen Saisonen muss man jetzt eher wieder Angst haben, etwas zu verpassen. Miriam Damev und Sara Schausberger haben sich schlaugemacht und geben hier einen Überblick über die ersten Premieren der Saison.


Podcast

Am 31. August 2015 sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel den folgenschweren Satz: "Wir schaffen das". Die deutsche "Willkommenskultur" war geboren. Kritiker monieren, damit habe die Politik Flüchtlinge überhaupt erst ermuntert, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Wissenschafter des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel wollten in einer Studie wissen, inwiefern solche "Pull-Faktoren" eine Rolle bei Flüchtlingsbewegungen spielen. Ihre Antwort: Fast keine. Was lässt sich daraus politisch ableiten? Politik-Chefin Eva Konzett hat für den FALTER-Podcast mit Tobias Heidland, einem der Studienautoren, gesprochen.


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