Die Freiheit, die wir meinen - FALTER.maily #611

Klaus Nüchtern
Versendet am 06.09.2021

zwischen 2018 und 2020 galt Wien laut dem alljährlich von der Economist Intelligence Unit (EIU) erstellten Ranking als lebenswerteste Stadt der Welt. Heuer wurde die Stadt allerdings vom neuseeländischen Auckland vom ersten Platz verdrängt und fiel auf Platz zwölf zurück. Gleich um dreizehn Ränge auf Platz 47 stürzte Hamburg ab. Das Reshuffling im Ranking betraf nämlich vor allem europäische, aber auch kanadische Städte und hat seine Ursache hauptsächlich in den Auswirkungen der Corona-Pandemie. Unter den Top Ten hat Australien mit vier Städten die Nase vorn vor Neuseeland, Japan und der Schweiz (je zwei).

Weder Hamburg noch Wien brauchen deswegen in schwere Depression zu verfallen. Als ziemlich lebenswerte Städte dürfen sie wohl allemal gelten. Dass Frankfurt mit Platz 39 die deutschlandinterne Wertung eindeutig für sich entscheiden konnte, macht die ganze Rankerei für mich persönlich ohnedies etwas dubios. Frankfurt am Main. Echt jetzt?

Außer Frankfurt mag ich eigentlich alle deutschen Städte. Ich mach dort sogar Urlaub. Zuletzt in Erfurt und Leipzig. Die beiden Städte haben es so wenig wie Berlin oder München auf die Liste der 140 Top Cities geschafft. Aber beide haben etwas, was Wien – wie mir jetzt wieder aufgefallen ist – tatsächlich fehlt, nämlich Plätze. Der Marktplatz in Leipzig ist fraglos der imposantere und schönere, der Domplatz von Erfurt im Wesentlichen eine mit Steinen gepflasterte Fläche, aber diese ist tatsächlich: leer. Es gibt weder Parkplätze noch irgendwelche Buden, man kann dort weder billigen Souvenirramsch noch hochwertige Thüringer Wurstwaren erwerben. Die Plätze in Leipzig und Erfurt erlauben einen ungehinderten Blick auf das Renaissance-Rathaus beziehungsweise den gotischen Dom; man kann über den Platz gehen und anderen Menschen beim Über-den-Platz-Gehen zuschauen. Mehr gibt’s da nicht zu sehen, und das ist gut so.

In Wien (und fast überall in Österreich) hingegen regiert ein regelrechter Horror vacui. Mit einer Piazza haben die Plätze, die so genannt werden, meist ohnedies nichts zu tun; Bezeichnungen wie Schweden- oder Morzinplatz sind bloß ein schlechter Witz. Aber selbst dort, wo sich eine platzähnliche Freifläche auftut – am Hohen oder am Neuen Markt, auf der Freyung oder am Rathausplatz –, sorgen Parkplätze oder das alljährliche Adventmarktarmaggedon dafür, dass den Agoraphobieanfällen proaktiv vorgebeugt wird, von denen die Wienerinnen und Wiener unweigerlich befallen werden, sollten sich innerhalb des Rings irgendwo zwanzig Quadratmeter auftun, auf denen sich weder ein Parkplatz noch eine Punschhütte befindet.

Begründet wird der Status quo in der Regel mit wirtschaftlichen Interessen: Verschwinden die Parkplätze, führe das unweigerlich zu einem geringeren Aufkommen an Konsument:innen und damit letztendlich zum Geschäftesterben. Warum das ein "völliger Unsinn" ist, erklärt Hermann Knoflacher in einem ausführlichen Interview, das Florian Klenk mit dem streitbaren Verkehrsplaner im vergangenen Jahr geführt hat. Sie können es hier nachlesen. Wien verfüge, so betont Knoflacher, über "eine Fußgänger-DNA und eine Straßenbahn-DNA". Das ist allerdings auch nur eine Metapher, die einen bestimmten historischen Status als gleichsam "naturgegeben" festzuschreiben sucht. Bloß, weil irgendetwas irgendwann einmal so gewesen ist (und in der Römerzeit oder im Mittelalter hatte Wien gewiss keine "Straßenbahn-DNA"), bedeutet das aber keineswegs, dass es für immer so bleiben müsse.

Die Gestaltung des öffentlichen Raumes ist schlicht eine Frage des (politischen) Willens und der (politischen und ökonomischen) Machtverhältnisse. Das Spannungsfeld zwischen Partikularinteressen und Gemeinwohl gestaltet sich freilich um vieles konflikthaltiger und komplexer, als der ranzige PR-Slogan der Wirtschaftskammer ("Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut") Glauben machen will, der angesichts der Klimakrise noch fadenscheiniger geworden ist, als er es ohnehin schon immer war.

Auch der Begriff der Lebensqualität bleibt selbst zutiefst historisch und muss stets neu befragt und ausgehandelt werden. Er ist seinerseits aufs Engste mit einem Freiheitsbegriff verknüpft, der – unter den genannten sowie den Bedingungen einer anhaltenden Pandemie – ebenfalls neu gedacht werden muss. Es hat sich nämlich erwiesen, dass der hyperindividualistische Freiheitsbegriff, der auf dem Anspruch beruht, zu jedem beliebigen Zeitpunkt möglichst schnell an jedem beliebigen Ort sein zu können, à la longue die Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit zerstört: Individualverkehr, Overtourism, Umweltzerstörung und Ressourcenvernichtung sind nur verschiedene Aspekte des gleichen Phänomens.

Die gute Nachricht: Allgemein- und Partikularinteressen müssen durchaus in keinem antagonistischen, unversöhnlichen Gegensatz zueinander stehen. Die Freiheit, nicht erschossen zu werden, wiegt zumindest in Old Europe schwerer, als die Freiheit, Schusswaffen tragen zu dürfen. Und mittlerweile nehmen es selbst Raucher und Raucherinnen dankbar in Kauf, zum Tschicken vors Restaurant gehen zu müssen, um danach in unverpofeltem Ambiente wieder speisen, trinken und konversieren zu können. Es ist also durchaus denkbar, dass auch Autofahrer eines nicht allzufernen Tages die Möglichkeit, über unverparkte Plätze flanieren zu können, als Lebensqualität schätzen werden.

Ihr Klaus Nüchtern


Zur Ergötzung

Was Wien im Unterschied zu Plätzen sehr wohl hat, sind Parks. Zum Beispiel den Donaupark. Er wurde 1964 anlässlich der WIG (Wiener Internationalen Gartenschau) auf einem in mehrfacher Hinsicht kontaminierten Gelände (Müllhalde und Hinrichtungsstätte) eröffnet und angesichts des etwas betulichen Paternalismus seiner Nutzungsangebote schon damals heftig kritisiert (einen ausführlichen Artikel zur Geschichte des Donauparks anlässlich der Jubiläumsausstellung im Wien-Museum 2014 können Sie hier nachlesen. Ich finde freilich, dass sich der Donaupark sehr gut gehalten hat und gerade in seinem Anachronismus einen beträchtlichen Charme entwickelt. Das 64 Hektar große Areal steht Menschen, Vögeln, Fischen und Nagetieren jedweder Herkunft und Neigung kostenlos und ohne Konsumverpflichtungen offen und bietet eine Vielfalt an Möglichkeiten zur selbstermächtigten Ergötzung. Und er hat, was auch nicht jede Stadt von sich behaupten kann, eine Liliput-Bahn!


Zum Nachlesen

Der exzellente von Ulrike Krippner, Lilli Lička und Martina Nußbaumer herausgegebene Katalog "WIG 64. Die Grüne Nachkriegsmoderne" (siehe oben), ist meines Wissens zwar vergriffen, aber es gibt ja auch Bibliotheken und Antiquariate.


Was Sie Schaün Könnten

Die Opening-Scene von "The Conversation" (1974) spielt am Union Square in New York, ist eine der besten Platz-Szenen der jüngeren Filmgeschichte in Francis Ford Coppolas Paranoia-Kino-Klassiker mit Gene Hackman in der Hauptrolle des Abhörspezialisten Harry Caul. Die Schlussszene ist übrigens auch kein Bröserl.


Zum Hören

Der derzeit waltende Spätsommer sorgt für die erquicklichsten Rahmenbedingungen, um durch Parkanlagen zu flanieren oder dort abzuhängen. Als Soundtrack dazu bietet sich natürlich "Walking in the Par" der britischen Jazzrock-Band Colosseum an. Stimme: James Litherland.


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