Wie ist die Stimmung? - FALTER.maily #623

Klaus Nüchtern
Versendet am 20.09.2021

mein Käsemann, bei dem ich am Samstag am Markt einkaufe, macht sich neuerdings den Spaß, mich danach zu fragen, wie "die Stimmung in Wien" sei. Keine Ahnung. Meine ist gerade ganz gut. Ich habe das letzte Stück Jersey-Camembert ergattert, werde demnächst mit meiner Frau unser einziges wöchentliches Frühstück zelebrieren, erfreue mich an meiner Lieblingsjahreszeit und gehe im Kopf moderate Ertüchtigungsvarianten mit Gastgartenoption durch. Auch die anderen Menschen, die gemeinsam mit mir in der Schlange stehen, Sonnenblumen, Maiskolben, Birnen und andersgelbe Früchte nach Hause tragen oder auf wackeligen Blechtischen Orangensaft trinken und Frühstückseier köpfen, scheinen guter Dinge zu sein.

Abseits des frühherbstlichen Samstagvormittagidylls sieht die Sache freilich anders aus. Beim Aufschlagen der Zeitung, Aufdrehen des Fernsehers, Abtauchen in die sozialen Medien und die Tiefen des Netzes stößt man auf Stimmungslagen, die sich zu einer "großen Gereiztheit" (Bernhard Pörksen) zu addieren scheinen. Stimmungen, denen ein nachgerade unendlicher medialer Hallraum zur Verfügung steht, sind gleichsam selbstverstärkend. Die ständig abgefragte und artikulierte "Verunsicherung" – "Man weiß ja gar nicht mehr, was man wo soll und darf!" – produziert Verunsicherung. Tatsächlich lässt sich diese alltagspragmatisch relativ leicht bewältigen, indem man im Zweifelsfalle einfach eine FFP2-Maske aufsetzt.

Schnell geraten Stimmungen denn auch in den Verdacht, bloß eine Art gefühliges, ja irrationales Gewaber zu sein, das sich in Nichts auflöst, sobald die Sonne der Vernunft ihre Strahlen aussendet. Das ist freilich ein Irrtum. In seinem Buch "Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen" beschreibt der deutsche Soziologe Heinz Bude Stimmungen als eine Grundvoraussetzung unseres Weltverhältnisses: So, wie man bekanntermaßen nicht nicht kommunizieren kann, könne man auch nicht keine Stimmung haben. Bude beschreibt Haltungen wie jene der "entspannten Fatalisten" oder der "heimatlosen Anti-Kapitalisten" und erklärt, dass diese eben nicht auf elaborierten Weltdeutungen beruhten, "denen man mit Gegenargumenten, Inkonsistenznachweisen oder Sachverhaltskorrekturen beikommen könnte."

Unter den rezenten Stimmungen lässt sich auch eine gewisse Hysterie ausmachen. Es ist dann von "Hygiene-Diktatur" die Rede und wird so getan, als würden die verordneten Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung einen neuen Totalitarismus etablieren. Ich finde das überzogen. Ein halbwegs solides Grundschulwissen in Geschichte des 20. Jahrhunderts reicht aus, um dergleichen Behauptungen als frivolen Unfug auszuweisen. Nicht weniger unsinnig ist das Geraune über die Gefährdung oder gar Abschaffung der "Meinungsfreiheit". Jede und jeder kann weiterhin die krausesten Behauptungen aufstellen, ohne vom Staat behelligt zu werden, solange er oder sie dabei nicht mit dem Verbotsgesetz in Konflikt gerät. Daraus die Berechtigung abzuleiten, in öffentlicher Rede einfach Lügen oder faktenwidriges Geschwätz verbreiten zu dürfen, ist freilich falsch – woran eindringlich der Leiter der Covid-Station Favoriten, Christoph Wenisch, erinnert hat, als er unlängst den "totalen Blödsinn", den Herbert Kickl von sich zu geben pflegt, auch als solchen bezeichnete.

Die "Skepsis", auf die sich jene berufen, die an der Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit der hierzulande oder anderswo verordneten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zweifeln, hat diesen Namen in vielen Fällen gar nicht verdient. Genuine Skepsis setzt nämlich die Bereitschaft voraus, den eigenen Zweifel auf eine evidenzbasierte, intersubjektiv überprüfbare und dem Status quo wissenschaftlicher Methodik verpflichtete Argumentation zu stützen und nicht auf das Pippi-Langstrumpf-Prinzip: "Ich mache mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt".

Aber weil man "mit Gegenargumenten, Inkonsistenznachweisen oder Sachverhaltskorrekturen" gegen die Gestimmtheit der selbsternannten Skeptiker nicht ankommt, macht es auch wenig Sinn, jemand überzeugen zu wollen. Und sie als Aluhutträger, Covidioten oder Schwurbler Dullis zu denunzieren, ist vermutlich eher kontraproduktiv. Man muss Proll, Stein, Schweiger & Co. nicht unbedingt vors Mikro und die Kamera bitten, wenn sie gerade ihren Beruf schwänzen, man kann sie auch einfach ignorieren. Die beste Aussicht auf stimmungsaufhellende Wirkung hat wohl ein gelassener Pragmatismus. Wenn man Impfgegner "überzeugt", indem man ihnen Geld gibt oder Tombola-Gewinne in Aussicht stellt, soll man das tun; wenn es hilft, Impfstationen in Kirchen oder neben Würstelständen einzurichten, ebenfalls.

Vermutlich werde ich den Vorwurf, einem obrigkeitsstaatlichen Paternalismus das Wort zu reden, dadurch auch nicht los, aber selbst ich bin gegenüber bestimmten Maßnahmen durchaus skeptisch. Geimpften das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes zu gestatten, Ungeimpfte aber auf die FFP2-Maske zu verpflichten, ist eine undurchführbare Schnapsidee. Wer soll das überprüfen oder kontrollieren? Immerhin, eines ist, wie mein Käsemann ganz richtig anmerkte, klar: Wer bei Microsoft einkauft, ist geimpft.

Ihr Klaus Nüchtern


Aus Dem Falter 1

Wie man eine Kontroverse auf zivile, kluge und anregende Weise ausfechten kann, führen meine Eva Konzett und Nina Brnada am Beispiel der Frage, ob der Staat Ungeimpfte zur Kasse bieten soll, auf geradezu exemplarische Weise vor.


Aus Dem Falter 2

Ehrlich gesagt, gehen mir "die Expert:innen", die allerorten aus dem Boden schießen wie Schwammerln nach einem Augustschauer, schon ein bisschen auf die Nerven, vor allem, wenn sie sich als "experts for the bleeding obvious" erweisen und nur Sätze von sich geben, die auch mir in der Sekunde eingefallen wären. Aber natürlich sind die Kompetenzen ungleich verteilt, ist die Frage berechtigt, wen man wo und wie oft zu Wort kommen lässt. Barbara Tóth gibt in ihrer Cover-Story "Wer darf reden?" eine ausführliche und überzeugende Antwort darauf.


Zum Nachlesen

In einem Essay mit dem bündigen Titel "Meinung Wahn Gesellschaft", enthalten in dem Band "Eingriffe", hat Theodor W. Adorno die soziale und psychologische Dynamik der Genese und Verbreitung von Meinungen auf luzide und teils auch recht witzige Weise analysiert. Die Phänomenologie des Rechthabers, die er dabei erstellt, hat bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren: "Der Rechthaber entwickelt, um nur ja die narzißtische Schädigung von sich fern zu halten, die ihm durch die Preisgabe der Meinung widerfährt, einen Scharfsinn, der oft weit seine intellektuellen Verhältnisse übersteigt. Die Klugheit, die in der Welt aufgewandt wurd, um narzißtisch Unsinn zu verteidigen, reichte wahrscheinlich aus, das Verteidigte zu verändern."


Zur Ergötzung

Eine der befriedigendsten und poetischsten Tätigkeiten, der man in dieser Jahreszeit nachgehen kann, ist Drachensteigen. Womit natürlich Einleiner gemeint sind und nicht diese widerwärtig lärmigen Lenkdrachen!


Zur Ermunterung

Für musikalischen Völkerverständigungskitsch habe ich die Türchen zu meinem Herzen immer sperrangelweit offen – da ist es mir auch vollkommen wurscht, ob der von der russischen Atomindustrie gesponsert wird. Оранжевое настроение bedeutet so viel wie "orange Stimmung", und wenn der Russe und die Russin "in an orange mood" sind, dann sind sie einfach super drauf. Besser wird's nimmer!


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