Die Sinti-Madonna - FALTER.maily #656

Matthias Dusini
Versendet am 28.10.2021

Zärtlich hält die Frau mit der linken Hand das stehende Kind. Die Gesichtszüge der beiden strahlen entspannte Vertrautheit aus. Das Gemälde "Zigeunermadonna" (1510–11) des venezianischen Malers Tizian entwirft ein neues Menschenbild. Nicht mehr der sühnende Sünder steht im Mittelpunkt, sondern ein Individuum, das sich empathisch dem Nächsten nähert. Das Licht und die Farben unterstreichen den veränderten Blick auf die Welt. Schatten legen sich weich über Körper und Landschaft. Hinter der Madonna und dem Jesuskind hängt ein gestreiftes Tuch im Raum, dessen Falten plastisch hervortreten. Gern würde man den Stoff anfassen. Tizian feiert die Flüchtigkeit des Irdischen.

Dieses Gemälde bekam nun einen neuen Titel. Es heißt nicht mehr "Zigeunermadonna", sondern "Madonna mit Kind vor buntem Ehrentuch". Die Umbenennung fand im Rahmen der großen Ausstellung "Tizians Frauenbild" im Kunsthistorischen Museum (KHM) statt, aus dessen Beständen das Werk stammt. 

Das KHM folgt damit dem Beispiel der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD), die den Titel von 143 Objekten wegen diskriminierender Begriffe veränderten. Auch hier gibt es eine "Zigeunermadonna", die nun "Madonna mit stehendem Kind" heißt. Die Figur "Mohr mit der Smaragdstufe" bekam Sternchen; ihr neuer Name lautet "**** mit der Smaragdstufe". Kritiker sahen darin einen neuen Fall von Cancel-Culture, die rechte AfD sprach von Bilderstürmerei. 

Tatsächlich handelt es sich nicht um Bezeichnungen, die von den Künstlern stammen, sondern um Einträge von Archivaren des 19. Jahrhunderts. Zu Recht überlegen sich Museen daher, ob Begriffe wie "Bastard" oder "Mischling" verzichtbar sind. Im Falle der "Zigeunermadonna" hätte das Museum dennoch anders vorgehen müssen.

Als Tizians Bild den Namen bekam, hatte er keine rassistische Bedeutung. Vielleicht wirkte er auf das Publikum sogar verstörend, weil die Heilige Familie mit einer verachteten Minderheit in Verbindung gebracht wurde. Einige Aktivistinnen und Aktivisten der Roma und Sinti verweisen außerdem auf die Madonna als Zeugin dafür, dass ihre Ethnie in der Kunstgeschichte vorkommt. In einem anderen berühmten Gemälde fand die Tilgung bereits viel früher statt. Giorgiones "Tempesta" (1508) wird in zeitgenössischen Quellen "Kleine Landschaft mit dem Sturm, der Zigeunerin und dem Soldaten" genannt. 

Die Geschichte von Titeln gehört wie die Provenienz zur Alterung von Kunstwerken. Wie Firnis legen sie sich über die Werke. Die Restaurierung sollte vorsichtig vonstattengehen, etwa indem die Museen die alten Namen in Klammern beibehalten. Die "Sinti-Madonna", dieses Meisterwerk der Zärtlichkeit, hätte sich einen behutsamen Umgang verdient. 

Ihr Matthias Dusini


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