Der Fall Eva Dichand und die Würdelosigkeit der SPÖ - FALTER.maily #1054
ich möchte sie in diesem Maily in aller Kürze über zwei Angelegenheiten in diesem Land informieren, die mich heute beschäftigten ...
1977 war ein wichtiges Jahr. Ein Jahr, in dem sich vieles ankündigte, was die Menschen in den kommenden Jahrzehnten noch beschäftigen und umtreiben sollte. Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin führt als Beleg für diese, seine These unter anderem die Morde der RAF („Offensive 77"), den Durchbruch der Menschenrechte („Charta 77"), Feminismus, Identitätspolitik, Psychoboom oder den Aufstieg des Personal Computers an. Auch Österreich gerät in dem materialreichen und dichten, aber unakademisch geschriebenen und sehr gut zu lesenden Buch „1977" in den Fokus des Autors: Die Frauenzeitschrift AUF findet ebenso Erwähnung wie die „Aktions-Analytische Organisation" des Künstlers und totalitären Kommunenpatriarchen Otto Muehl.
Es ist die Zeit, in der Sarasin zufolge der „Sehnsuchtssignifikant der Identität" mit politischer Energie aufgeladen wird. Tatsächlich wurde der Begriff der „Identitätspolitik", der in den letzten Jahren eine steile Karriere hingelegt hat, ebenfalls 1977 in den öffentlichen Diskurs eingeführt und zwar vom Combahee River Collective, einer Gruppierung Schwarzer, lesbischer Frauen aus der Arbeiterklasse, die sich mit der Multiplikation von Unterdrückungsmechanismen aufgrund von Sex, Class, Race und Gender auseinandersetzten und damit die Intersektionalitätsforschung vorausnahmen.
Die „Reise zu sich selbst", so die Überschrift des Kapitels, in dem Sarasin auch die Identitätspolitik abhandelt, kann politisch links oder rechts codiert sein oder überhaupt in eine entpolitisierte und esoterisch umwölkte Innerlichkeit führen. Alle diese Einstellungen findet man unter den Demonstrant:innen gegen die Corona-Maßnahmen. Das ist auch der Grund, warum die Proteste von den Soziologen Oliver Nachtwey und Nadine Frei als erste wirklich postmoderne Bewegung identifiziert wurden. Wo genau die verschiedenen Identitätspolitiken zu verorten sind, hängt von den jeweiligen Leitparadigmen ab. Während Rechte oder Nazi 2.0.-Gruppierungen à la Identitäre auf die Koppelung einer essentalistischen ethnischen Identität mit territorialer Exklusivität – „Österreich den Bio-Österreichern" – setzen, beziehen sich linke Identitätspolitiken auf den Egalitätsanspruch der Menschenrechte, wie er schon in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (4. 7. 1776) oder der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (26. 8. 1789) formuliert wurde.
Die dezidiert rechten und jene verpeilten Demonstrant:innen, die es nicht geniert, gemeinsam mit Nazis auf die Straße zu gehen, berufen sich auf eine Freiheit, die strikt individualistisch gedacht ist und den Artikel 4 der Menschenrechtserklärung von 1789 vorsätzlich ignoriert: „Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. So hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichern."
Nun wird man von Rechten nicht erwarten, dass sie die Prinzipien der Französischen Revolution hochhalten. Freiheit, ja, aber nur für Menschen, die über die rechte Pigmentierung verfügen, der rechten Klasse und dem rechten Geschlecht angehören und auch noch das rechte Geschlecht begehren. Gleichheit ist bloß schnöde „Gleichmacherei", und mit der Brüderlichkeit hatte und hat man ohnedies so seine Schwierigkeiten – und zwar sowohl auf der rechten, als auch auf der linken Seite.
Damit ist nicht die Frage des Genderns gemeint – wir ersetzen die „Brüder-" einfach durch die „Geschwisterlichkeit" –, sondern das Problem, wie man die Heilige Dreifaltigkeit der Französischen Revolution überhaupt unter einen Hut bekommt. Sind schon Freiheit und Gleichheit „feindliche Schwestern", so stellt sich die Dritte im Bunde als der heikelste Part heraus, wie die französische Historikerin Mona Ouzuf angemerkt hat: „Denn die Brüderlichkeit gehört ganz offensichtlich zu einer anderen Ordnung: der Pflichten und nicht der Rechte, der Beziehungen und nicht der Statute, der Harmonie und nicht der Verträge, der Gemeinschaft und nicht des Individuellen."
In der Trinität von Gleichheit, Freiheit und Bürderlichkeit nimmt letztere gleichsam die Position des Heiligen Geistes ein. Sie ist eben kein Recht, das sich einfordern ließe, sondern eine Praxis, etwas, das hergestellt werden muss – und zwar gemeinsam. der linkskatholische österreichische Historiker Friedrich Heer hat in seinem Beitrag für den – im übrigen ebenfalls 1977 erschienenen – Sammelband „Brüderlichkeit. Die vergessene Parole" darauf hingewiesen, dass sich Tugenden und Fertigkeit nur dann entfalten können, wenn sie ständig praktiziert, getestet und erweitert werden. Das gelte auch für die Brüderlichkeit, wenn sich diese als „wetterharte Tugend" in einer „von Krisen, Krankheiten, Katastrophen geschüttelten Gesellschaft entwickeln" können soll.
In der Bibel steht die Geschwisterlichkeit von Anfang an unter dem Unstern des Brudermords. Seitdem hat sie einen schweren Stand, wie gesagt: auch unter Linken. Friedrich Engels fand „das Gestöhn von Brüderlichkeit" schlicht degoutant, und im „Realen Sozialismus" bestand die Praxis der Brüderlichkeit nicht zuletzt in der unschönen Gewohnheit, die Bruderländer mittels Panzern, Kanonen und Hinrichtungskommandos an die brüderlichen Pflichten zu gemahnen: „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag’ ich dir den Schädel ein."
Geschwister stammen von gemeinsamen Eltern ab, sind einander körperlich verbunden. Der Körper steht auch im Fokus der Pandemie: als Wirt des Virus, als Objekt der Biopolitik, als Hort der Selbstsorge. Querdenker, Querulanten, Kickl & Co aber geben sich einem paradoxen Phantasma hin, indem sie sich zugleich als souverän und vulnerabel imaginieren: Sie verfügen – hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder – über ein unbesiegbares Immunsystem und sind dennoch die Unterdrückten, Gegängelten, Erniedrigten und Beleidigten, die sich – zynischer und geschmackloser Gipfelpunkt opfernarzisstischer Anmaßung – den Judenstern an den Anorak heften.
Ich glaube, es war Martin Walser, der einmal meinte, dass es keinen größeren Unterschied gebe als den zwischen einem gesunden und einem kranken Menschen. Geschwisterlichkeit (nicht nur) in Zeiten der Pandemie aber bestünde darin, diese Kluft zumindest fühlend und phantasierend zu überwinden; das narzisstische Phantasma – alle müssen sterben, bloß ich nicht – auszuschlagen und sich stattdessen selbst als jemanden vorstellen zu können, der/die auf einmal nichts mehr schmecken oder riechen kann, beim Gang aufs Klo Schweißausbrüche erleidet, keine Luft mehr bekommt, Todesangst verspürt. Vielleicht ist es die Imagination der eigenen Hinfälligkeit, die geschwisterliches, solidarisches Handeln erst ermöglicht.
Ihr Klaus Nüchtern
DAS METRO
Kulturgeschichte eines Wiener Vergnügungsorts
Die kostenlose Online-Ausstellung zum Jubiläum beleuchtet nicht nur die 70-jährige Geschichte des Metro-Kinos, die nach dem Umbau von Architekt Robert Kotas am 25. Dezember 1951 begann. Es blickt auch zurück auf fast 200 Jahre Wiener Unterhaltungskultur in der Johannesgasse 4.
Ein Interview, das Sebastian Fasthuber mit Philipp Sarasin, dem Autor des hier zitierten Buches „1977", geführt hat, finden Sie hier (freigeschaltet).
„Wir haben einen sehr breiten Dialog gestartet"; „Wir haben gesagt, wir werden ihn breit aufstellen"; „Wichtig ist, dass wir einen breiten gesellschaftlichen Konsens erreichen"; „Wir brauchen einen breiten gesellschaftlichen Konsens, wir brauchen auch eine breite politische Basis"; „Es ist sicher, dass wir einen sehr breiten Prozess gestartet haben" … usw., usf. Der Nikkolaustag 2021 wird in die Geschichte des Landes als jener Tag eingehen, an dem Wolfgang Mückstein, Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, in der „ZiB 2" mehr hohle Phrasen gedroschen hat, als hohle Nüsse in einen 30-Liter-Sack gehen. Die Frage, die sich aufdrängt: Wie breit war Mückstein? Und ist sein Cannabiskonsum medizinisch indiziert?
Vor 40 Jahren, am 13. Dezember 1981, wurde in Polen das Kriegsrecht verhängt, repressive Reaktion auf die Streikbewegung, die im Sommer 1980 aufgrund der Entlassung der Kranführerin Anna Walentynowicz in der Leninwerft Danzig ihren Ausgang genommen und in der Folge zur Gründung der Gewerkschaft Solidarność geführt hatte – auch eine Form gelebter Geschwisterlichkeit. Eine Folge der ORF-Sendung Universum History lässt die Protagonist:innen jener Bewegung zu Wort kommen, die der Anfang vom Ende des Sowjet-Imperialismus war: „Alles begann in Gdansk" sagt der DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin. Und wie man Solidarność tatsächlich ausspricht erfährt man in dieser packenden Doku ebenfalls.
Die traditionelle weihnachtliche Vanillekipferl-Ausgabe der Literatur-Talkshow „Tea for Three", die Daniela Strigl und ich seit nunmehr siebzehn Jahre betreiben, wird – juhu! – „in Präsenz" stattfinden: unter Voraussetzung der bekannten Kürzel: 2G und FFP2. Alle Interessierten seien also herzlich eingeladen, persönlich vorbeizuschauen, wenn wir mit der Historikerin, Schriftstellerin, Austellungs- und Filmemacherin Helene Maimann über Bücher von Alois Hotschnig, Simone de Beauvoir und, ja eh, Philipp Sarasin diskutieren.
„Sisters. Niggers. Whiteys. Jews", wandte sich – ein allerletzter Hinweis in Sachen Geschwisterlichkeit – Curtis Mayfield an sein Publikum: „If there's hell below, w'ere alle gonna go." So ist es.
Heute in acht Monaten, am 13. August 2022, wird das nächstjährige Grafenegg Festival auf der Open-Air-Bühne Wolkenturm eröffnet. Der Run auf die Karten für die hochkarätigen Konzerte im idyllischen Schlosspark hat schon begonnen.
Wer es bequem mag, kauft sich einen Rasenplatz um 10 Euro und macht es sich auf einer Picknickdecke gemütlich. In Grafenegg sind die Sterne zum Greifen nah – nützen auch Sie Ihre Chance!