Kowall und Zwander - FALTER.maily #1100
Ich möchte Ihnen heute von zwei Sozialdemokraten erzählen, die ich in den vergangenen Jahren doch recht intensiv beobachten konnte und die ...
Ich weiß nicht, wie lange sich die Bezeichnung noch gehalten hat (oder ob sie in irgendwelchen entlegenen Alpentälern gar noch in Gebrauch ist), aber in meiner Kindheit hieß der Nationalfeiertag "Tag der Fahne". Jedenfalls für Volksschulkinder. Die führten damals so etwas wie ein Heimatkundeheft – meines hatte eine Ansichtskarte mit Enzian-Motiv als "Cover" –, in das wir ständig "Zierleisten" hineinmalen mussten.
Sicher haben wir seinerzeit am "Tag der Fahne" auch rot-weiß-rote Fahnen gebastelt. Dass mich das stark affektiv affiziert hätte, wäre mir nicht erinnerlich. Viel aufregender waren die Flaggen jener Länder, in denen mein Vater schon einmal gewesen war, und die das Kinderzimmer schmückten. Die Flaggen von Ländern wie Indien, dem Iran (zu dem man damals noch "Persien" sagte) oder meinem Bubentraumland Kanada, brachten einen Hauch der weiten Welt auf die Ennsleiten – wo, das nur nebenbei, auch die bekannte Pfarrkirche steht, die von der Arbeitsgruppe 4 entworfen wurde, der auch der vor Kurzem verstorbene Architekt Friedrich Kurrent angehörte.
Aber genug der Nostalgie. Worum es mir diesmal geht, ist tatsächlich die Fahne, also: die österreichische Nationflagge. Die mir bis vor Kurzem noch immer ziemlich wurscht gewesen ist. Ich will das übrigens gar nicht als politisch-polemisches Statement, sondern eher als wertneutrale Feststellung verstanden wissen. Die österreichische Fahne ist schon mal ästhetisch vollkommen uninteressant: Rot-weiß-rot – und keine Spur von einem Ahornblatt. Gähn. Und die bluttriefende Bindenschildlegende aus der Zeit der Kreuzzüge macht sie einem auch nicht unbedingt sympathischer.
Fahnen sind Herrschaftszeichen, dazu da, das "Eigene" zu markieren und Territorialansprüche geltend zu machen – so wie es der britische Stand-Up Comedian und Schauspieler Eddie Izzard in einem seiner grandiosen Sketches auf den Punkt gebracht hat. Das Hissen, Erobern, Erretten, Entfernen oder Verbrennen von Fahnen ist oft mit einem unglaublichen Pathos verbunden – man denke etwa an Joe Rosenthals berühmtes Kriegsfoto "Raising the Flag on Iwo Jima", das sich tief ins kollektive Gedächtnis gebrannt hat, obgleich das Foto einen ziemlich banalen und erst durch die Bildinszenierung mit Bedeutsamkeit aufgeladenen Vorgang dokumentiert (tatsächlich wurde einfach eine kleine Flagge durch eine größere ersetzt).
Bis vor Kurzem noch hätte ich – sozusagen: vorsichtig und probehalber – die Auffassung vertreten, dass das Pathos, das sich an die österreichische Fahne heftet, enden wollend ist. Man zieht sie pflichtbewusst am 26. Oktober im Gemeindebau hoch und wachelt bei Skisportveranstaltungen im Zieleinlauf mit ihr. Jo, mei – soll sein. Nun aber hat die Nationalflagge ein überraschendes Comeback in einem Kontext gefunden, der alles andere als pathosfrei ist, ganz im Gegenteil: Längst sind rot-weiß-rote Fahnen fixer und nicht mehr wegzudenkender Begleiter der allwöchentlichen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen – gerne auch mit Bundes- oder Doppeladler.
Und das stört mich dann doch, ja, es macht mich sogar wütend. Weil es mir bei aller Distanz gegenüber nationalen Symbolen keineswegs egal ist, was in diesem Land passiert, wofür es steht, wie es sich darstellt oder "im Ausland" wahrgenommen wird. Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat "Nationen" als "imagined communities" bezeichnet. Weil wir gar nicht die Chance haben, alle Menschen, die derselben Nation angehören, zu begegnen, geschweige denn, sie kennenzulernen, definieren die Vorstellungen und Projektionen, die man sich von dem jeweiligen Land macht, dessen Identität. Das bedeutet aber keineswegs, dass es sich um bloße Fiktionen oder Hirngespinste handelte, sondern dass es alles andere als egal ist, welche Imaginationen sich durchsetzen.
Das Rot-Weiß-Rot-Gewachel der Impfgegner und Maßnahmenverweigerer artikuliert nichts weniger als den Anspruch, das ganze oder das "wahre" Österreich zu repräsentieren. Ich empfinde das als dreiste Hybris und die opfernarzisstische Anmaßung, in einem totalitären Regime zu leben, als eine Obszönität, die ihresgleichen sucht. Woche für Woche versammelt sich eine – wie gerne betont wird – politisch buntscheckige, aber zu großen Teilen halt doch aus evidenzresistenten Esoterikern und Extremisten bestehende Bewegung, um unter Polizeischutz durch die Straßen zu ziehen und sich als lautstärkste Minderheit des Landes darüber zu beklagen, nicht gehört zu werden. Wie wär’s mal mit einem Auslandsgastspiel bei den Gesinnungsgenoss:innen in Weißrussland oder Kasachstan? Die würden sich gewiss über Unterstützung aus dem Westen freuen.
Nein, es sind nicht alle Nazis, die gegen die Covid-Maßnahmen auf die Straße gehen. Aber, sorry, das Narrativ von den freiheitsliebenden, besorgten Bürger:innen, die – sie wissen selbst nicht so recht, wie ihnen geschieht – zufällig im Gleichschritt mit Nazis marschieren, ist mehr als fadenscheinig. Der Übergang vom biederen Bürger zum rabiaten Spießer und zum gewaltbereiten Mob ist, wie man aus der Geschichte weiß oder jedenfalls hätte lernen können, ein fließender. Nicht umsonst warnen Extremismusforscher:innen wie Julia Ebner vor der Dynamik einer um sich greifenden Radikalisierung. Das kann dann verstörend schnell gehen. Und immer noch gilt: "Wer mit Hunden zu Bett geht, steht mit Flöhen auf."
Ihr Klaus Nüchtern
An einen neuerlichen Lockdown ist vorerst nicht gedacht – man könnte sarkastisch hinzufügen: nicht einmal für die Kultur. Aber, wer weiß! Man sollte sich also auch diesbezüglich nicht in Sicherheit wiegen und stattdessen die Zeit, die man sich durch Home-Office spart, zum Beispiel in Museumsbesuche investieren. Nicole Scheyerers erster Ausblick auf das "Kunstjahr 2022" hilft bei der Entscheidung.
Die Kulturwissenschaftlerin und Anglistin Aleida Assmann hat – gemeinsam mit ihrem Mann, dem Ägyptologen Jan Assmann – bahnbrechende Arbeiten zum kulturellen Gedächtnis verfasst. Darüber hinaus hat sie sich zuletzt dafür stark gemacht, den Begriff der Nation nicht vorschnell über Bord zu werfen und den Rechten zu überlassen. In der Radiothek von Ö1 kann man das überaus anregende Gespräch, das Birgit Dalheimer (Staatspreisträgerin für Wissenschaftspublizistik 2018) mit Assmann geführt hat, noch bis zum kommenden Freitag nachhören.
Ein Interview mit der Aleida Assmann können Sie auch in dem Sammelband "Unser Land. Wie wir Heimat herstellen" nachlesen, den der Historiker Thomas Walach und ich im vergangenen Jahr herausgegeben haben.
Auch die Kinos haben derzeit (noch) geöffnet. Nutzen Sie dich Chance! Zum Beispiel, um sich drei Stunden lang Autofahrten und Proben zu "Onkel Wanja" anzusehen. Das und noch viel mehr erwartet Sie in "Drive My Car", der Adaption einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami, die Regisseur Ryusuke Hamaguchi auf epische drei Stunden ausgedehnt hat, ohne dass einem auch nur eine Minute langweilig würde. Für mich eindeutig der aufregendste, überraschendste und zärtlichste Film des Jahres 2021.
Es mag schlechte Filme mit Benedict Cumberbatch geben, aber ich kenne keinen, in dem Benedict Cumberbatch schlecht wäre. Und das bei einem unglaublichen Output. Nach dem packenden Cold-War-Drama "The Courier" (2020), das bei uns im Vorjahr in die Kinos kam – ein Interview, das Michael Omasta aus diesem Anlass mit Cumberbatch geführt hat, finden Sie hier – brilliert das britische Sexsymbol (vergesst Adam Driver!) nun in Jane Campions grandiosem "The Power of the Dog", einer Art Neo-Western, der im Jahr 1925 spielt. Setting und Thematik erinnern entfernt an Ang Lees Annie Proulx-Adaption "Brokeback Mountain", und auch hier gibt es jede Menge Landschaft (Montana!), Viecher und ein großartiges Ensemble an Schauspieler:innen. Watch it on Netflix!
„FLEE“ – Der preisgekrönte animierte Dokumentarfilm exklusiv im Stadtkino!
"It's activism, therapy and great cinema all at once" (IndieWire)
Der großartige Eröffnungsfilm des this human world Filmfestivals zeigt eindrucksvoll die Erlebnisse eines Flüchtlings, der seine Geschichte für 20 Jahre geheim halten musste. Zahlreiche internationale Preise sowie drei Oscar-Nominierungen sprechen für sich!
„FLEE“ ab Freitag im Stadtkino!
Tickets zur Premiere mit anschließendem Gespräch HIER.