Die dystopischen Spiele - FALTER.maily #727

Lukas Matzinger
Versendet am 06.02.2022

An den Ausläufern der Wüste Gobi hat es im Winter minus 20 Grad, aber so gut wie keinen Schnee. Seit Freitag verlaufen olympische Winterspiele im Nordosten Chinas, wo sie nach keinen redlichen Maßstäben hingehören. Das romantische Hochamt des Publikumssports verkommt in Peking zur surrealen, klinischen Propagandamesse.

Wenn es aber sonst keiner machen will: Sieben von neun Städten hatten ihre Bewerbungen für 2022 zurückgezogen, wegen des Geldes, der Umwelt und der Knebelverträge des internationalen olympischen Komitees. Am Ende konnte das IOC zwischen zwei autoritären Regimen wählen: Peking gewann die Abstimmung mit 44:40 gegen Almaty, Kasachstan. Der verstorbene Skiverbandschef Gian Franco Kasper hatte schon 2017 gestanden: "Vom Geschäftlichen her sage ich: Ich will nur noch in Diktaturen gehen, ich will mich nicht mit Umweltschützern herumstreiten."

Wer sich seit Freitag für die Slopstyle- oder Skispringbewerbe aus dem Bett schält, sieht also die ersten Winterspiele ohne Naturweiß, die Schneekanonen fressen zwei Milliarden Liter Wasser. China kann auch eine Bobbahn um zwei Milliarden Euro bauen, aber leider die Eisböen nicht abstellen: Die Herrenabfahrt musste heute ihretwegen vertagt werden, Biathleten verweht es beim Schießen.

Natürlich spricht mehr als die Meteorologie gegen Olympia in China: Seit dem Zuschlag im Jahr 2015 hat sich der Einparteienstaat mit Zwangsarbeitslagern für Muslime, Totalüberwachung des Volkes, Verschwindenlassen von Menschenrechtsanwälten und der Entdemokratisierung Hongkongs ein bisschen angepatzt.

Dann kam auch noch die Seuche, sie macht die olympische Dystopie jetzt für jeden offenbar: Alle 2900 Sportler und alle Reporter mussten eine Handyapp herunterladen, in die sie schon Wochen vor der Anreise jeden Tag ihre Körpertemperatur eintrugen. In China warten überall Terrakotta-Armeen in weißen Ganzkörperschutzanzügen auf sie. Für die 200 Meter vom umzäunten Hotel zur Eishalle ist der Shuttlebus verpflichtend – niemand darf sich frei bewegen gehen, obwohl die Straßen ohnehin gesperrt sind.

So eine Pandemie kommt dem Überwachungsstaat zupass: Die vorgeschriebene Olympia-App will "im Hintergrund auf den Standort zugreifen" und schützt Tonaufnahmen der Nutzer kaum. In der Chatfunktion sind 2442 Wörter gesperrt, darunter der Name des Staatschefs Xi Jinping. Bei einer Pressekonferenz hatte ein Organisator ausländische Sportler vor politischen Statements gewarnt.

Der deutsche IOC-Präsident hat gut zugehört und in seiner Eröffnungsrede gelobt: "China beginnt mit den Spielen eine neue Ära für den globalen Weltsport. Wir können dieses neue Kapitel der Sportgeschichte nur dank unserer gütigen Gastgeber schreiben."

Die Olympische Winterspielattrappe dauert bis Sonntag, 20. Februar. Kunden, denen das gefällt, interessieren sich auch für: die Fußball-WM ab November in Katar.

Ihr Lukas Matzinger


Zum Hören

Im Jänner 1979 hat der 21-jährige Nick Cave mit seiner damaligen Band The Boys Next Door (später: The Birthday Party) dieses bittersüße Brett aufgenommen. Geschrieben hatte es der erst 16-jährige Gitarrist Rowland S. Howard, und zwar mit diesem Beginn: "I've been contemplating suicide / But it really doesn't suit my style".


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Im FALTER-Radio hören Sie aktuell die Musikerin und Kulturwissenschaftlerin Isabel Frey im Gespräch mit Hanno Loewy über Identitäten und revolutionäre Traditionen im Judentum. In der Episode von Samstag sprechen der Wiener Altbürgermeister Michael Häupl und die Umwelthistorikerin Verena Winiwarter (Boku Wien) über den Weg zu einer klimagerechten Gesellschaft.


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