Die Schlange aus Stahl

Nina Brnada
Versendet am 02.03.2022

Ein 60 Kilometer langer russischer Militärkonvoi wälzt sich von Norden Richtung Kiew, wie eine Python mit der Absicht, die ukrainische Hauptstadt mit ihren knapp drei Millionen Einwohnern zu erdrücken.

Aus dem Westen kommen massive Solidaritätsbekundungen, von Grätzlinitiativen, die Medikamente und Windelpackungen für Flüchtlinge sammeln, bis hin zu den führenden Politikern der westlichen Welt, die allesamt die Ukraine auf den Lippen haben. Schöne Worte kriegt die Ukraine zuhauf. Was aber kann der Westen noch tun, um der Ukraine dabei zu helfen, die stählerne Schlange zu zerhacken – substanziell militärisch, das einzige, worauf es jetzt ankommt? Die weitreichenden Sanktionen haben sie bisher jedenfalls nicht aufhalten können.

Die ukrainische Aktivistin Daria Kaleniuk bricht bei einer Pressekonferenz des britischen Premiers Boris Johnson in Tränen aus. Sie fleht fast schon um eine Flugverbotszone für die Ukraine, also um westliche Abwehr russischer Luftschläge. Kaleniuk wiederholt eine Forderung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, durchaus berechtigt aus deren Sicht. Doch würde man ihr nachkommen, wäre das wohl der Pfad in den Dritten Weltkrieg. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird die Welt auf der Couch vor den Bildschirmen sitzen und dabei zusehen, wie die Ukraine langsam ausblutet.

Wie es den Menschen geht, die in dieser Hölle sind? Sie müssen funktionieren. "Die Gefühle und der Verstand sind wie betrunken", erzählt Ivan Kovalyschyn im aktuellen FALTER, er ist Sozialarbeiter in der westukrainischen Stadt Czernowitz, der dort Flüchtlinge aus dem Osten des Landes betreut. "Es passiert alles wie im Traum."

Man wacht erst auf, wenn alles vorüber ist. "Was Krieg wirklich bedeutet, versteht man erst, wenn er vorbei ist", sagt Vedran Džihić, in den Neunzigerjahren als Teenager aus Bosnien und Herzegowina während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien nach Österreich geflüchtet, heute ein renommierter Politikwissenschaftler. Der Krieg in der Ukraine wühlt bei Menschen, die Ähnliches erlebt haben, alles wieder auf. Džihić spricht von Flashbacks, die ihn "in den Tagen und Nächten" begleiten. Beim Anschauen eines Videos, das einen ukrainischen Buben zeigt, der sich von seinem Vater verabschiedet, weil dieser zur Front geht, erlebt Džihić ein Rendezvous mit seiner eigenen Vergangenheit: "In einem Moment sah ich vor meinem inneren Auge mein eigenes Gesicht inmitten meines Krieges mit dem Gesicht des kleinen Buben verschmolzen."

Was nach dem Ende klingt, trägt den Keim der Zuversicht. Džihić weiter: "Und dann spürte ich wieder die leise aufkommende Hoffnung, dass der Bub, genauso wie ich heute, einmal ein erwachsener Mann sein wird, der das Gesetz der sinnlosen Zerstörung im Krieg für sich und seine Liebsten durch das Gesetz der Hoffnung und der Liebe ersetzen wird können."

Ihre Nina Brnada


Aus Dem Falter 1

Könnte der Ukraine-Krieg ein Trigger für eine weitere Eskalation des schwelenden Konflikts am Balkan sein? EU und NATO haben bereits 500 zusätzliche Soldaten zur Verstärkung der Friedensmission EUFOR nach Bosnien geschickt. Eine Anerkennung der Republika Srpska durch Russland könnte die Karten beispielsweise auf eine höchst gefährliche Weise völlig neu mischen, wie Sie in meinem Kommentar im aktuellen FALTER nachlesen können.


Aus Dem Falter 2

Vielleicht haben Sie es schon mitbekommen, wir möchten Sie dennoch erneut auf unser "Ukraine-Update" von Martin Staudinger hinweisen. Hier können Sie das tägliche Briefing als kostenlosen Newsletter abonnieren, hier im heutigen Update nachlesen, warum man sich derzeit trotz entsprechender Drohungen Putins vor einem Atomangriff nicht zu fürchten braucht.


Gut

"Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit", lautet die Binsenweisheit der Stunde, deren ungeklärter Ursprung sie um nichts weniger zutreffend macht. Im Falle Russlands ging die Untergrabung der Wahrheit dem konventionell-militärischen Krieg allerdings schon voraus, Stichwort russische Trollfabriken. Im FALTER lesen Sie, wie Organisationen wie Bellingcat mit Open Source Intelligence (OSINT) gegen die russische Desinformationsoffensive ankämpfen.


Ganz Was Anderes

Es wäre bis vor Kurzem nicht denkbar gewesen, aber der Krieg in der Ukraine schafft es doch tatsächlich, eines der größten innenpolitischen Events dieser Tage zu überlagern: Den Start des ÖVP-Untersuchungsausschusses nämlich. Josef Redl hat zum heutigen Beginn des Ausschusses für den FALTER.morgen aufgeschrieben, was uns dort in Woche 1 erwartet. Und Florian Scheuba hat in Folge eins der neuen Staffel von "Scheuba fragt nach..." Stephanie Krisper von den Neos gefragt, was die Abgeordneten ans Licht zu befördern gedenken. Spoiler: Da kommt noch ordentlich was auf uns zu!


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