Historische Vergleiche - FALTER.maily #760

Barbara Tóth
Versendet am 16.03.2022

Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich, lautet eine abgedroschen Redensart, die ich als angehende Historikerin während meines Studiums oft gehört habe. Wenn etwas so Unbegreifliches wie der Überfall Russlands auf die Ukraine passiert, sucht man trotzdem nach historischen Analogien. Das ist verständlich, auf was sonst als Erfahrungen aus der Vergangenheit soll man zurückgreifen, wenn man etwas einordnen will? Dann wird Putin mit Hitler gleichgesetzt und der Angriff Russlands auf die Ukraine mit dem "Anschluss" Österreich an Nazi-Deutschland 1938 verglichen.

profil-Außenpolitikexpertin Franziska Tschinderle, Absolventin des Fachs Zeitgeschichte wie ich, hat dazu eine lesenswerte Analyse geschrieben. Nein, Wladimir Putin ist nicht wie Adolf Hitler, der böse Angriffskrieg, der uns alle fassungslos macht, ist nie und nimmer mit dem Holocaust vergleichbar. Und nein, die Ukrainer werden 2022 nicht wie 1938 die Österreicher "alleingelassen", wie es Außenminister Alexander Schallenberg ungeschickt und missverständlich in einem Zeit im Bild 2-Interview formulierte. („Wir haben doch 1938 am eigenen Leib erlebt, wie es ist, wenn man alleingelassen wird.”)

Die Sehnsucht nach Eindeutigkeiten, nach Gut und Böse, Held und Satan, wer versteht sie nicht, in dunklen Zeiten wie diesen? Wer Geschichte studiert, lernt, das es meistens viel komplizierter ist. Man sucht nach Brüchen und Kontinuitäten, was derzeit wie der Anfang eines Krieges ausschaut, hat eine lange, ambivalente Vorgeschichte, wie der Osteuropa-Historiker Oliver Jens Schmitt für den Falter hier blendend aufgeschrieben hat. Im Falter der nächsten Woche werden sie dazu ein Gespräch mit der ukrainischen Historikerin Tatiana Zhurzhenka lesen, die seit Jahrzehnten zu den komplexen und widersprüchlichen ukrainisch-russischen Beziehungen forscht - und diesen Krieg deshalb auch als "postkolonial" einordnet.

Der Kampf um eine eigene Identität, die Frage, ob man eine "Kulturnation" ist oder nicht, das Gefühl, Grenzland zu sein, eingezwängt zwischen den Blöcken des Westens und Ostens - in der Geschichte der Ukraine gibt es viele Aspekte, die einem als gelernte Österreicherin vertraut vorkommen. Vertraut, aber nicht vergleichbar.

Ihre Barbara Tóth


Zum Nachdenken

Ich weiß nicht, ob und wie Sie Ihre Mediennutzung in Zeiten des Krieges verändert haben. Ich jedenfalls nutze meine einstigen Lieblingskanäle twitter und Instagram viel weniger als zuvor. Von Facebook habe ich mich schon länger verabschiedet. Das klingt jetzt vielleicht paradox, weil ich als Journalistin für die Themen Politik, Medien und Gesellschaft zuständig bin, kann ich natürlich nicht nicht auf den sozialen Medien sein. 

Aber ich gebe zu, so dankbar wie derzeit war ich schon lange nicht mehr, nur abends oder morgens die journalistisch kuratierten, einordnenden, zusammenfassenden Berichte des Kriegs-Tagesgeschehens im Fernsehen zu schauen oder in einer guten Tageszeitung mit Berichterstatter:innen vor Ort zu lesen, die die Landessprachen beherrschen. Mein Kollege Martin Staudinger liefert dazu übrigens einen hervorragenden täglichen Newsletter.

Dass der russische Präsident Wladimir Putin ein Diktator ist und sein Überfall auf die Ukraine ein mieser Angriffskrieg, ist klar. Aber muss deswegen sein ukranisches Gegenüber Wolodymyr Selenskyj gleich der strahlende Held sein, als der er mir in den sozialen Medien entgegen schwappt? Solidarisiere Dich mit uns, rufen mir all die sympathischen Videos und Bilder auf twitter und instagram zu. Aber ich will mich nicht mit den Machthabern in Kiew solidarisieren, über deren Korruptheit Medien noch vor zwei Jahren berichteten. Solidarität verdienen alle Kriegsflüchtlinge, auch jene, die desertiert sind. Aus der Ukraine und aus Russland.


Lesetipp

Am Samstag wird Wolfgang Ambros 70. Sein Jubiläum begehen unser Feuilleton-Ressort mit einem dichten Schwerpunkt für Ambros, der den Austropop prägte wie kein Zweiter. Musikexperte Gerhard Stöger führte ein langes und lesenswertes Gespräch mit ihm, die 25-jährige Regisseurin und Musikerin Anna Marboe und der 38-jährige Voodoo Jürgens schreiben Ambros ein Ständchen. Lesen Sie rein!


Was Sie Schaün Könnten

Zwei Netflix-Serien haben mich zuletzt begeistert. "Inventing Anna" erzählt die Geschichte der kriminellen Hochstaplerin Anna Sorokin, die jetzt doch nicht aus den USA nach Deutschland zurückkehrt. Als Anna Delvey führte sie New Yorks High Society an der Nase herum und trickste Banker, Kunstszene und Immobilienfuzzis aus. Nebenbei erzählt die Serie auch einiges darüber, wie Redaktionen funktionieren. Die Journalistin, die Sorokin recherchiert, fristet zuerst ein trauriges Dasein in einem Teil der Redaktion, der "Scriberia" genannt wird. Weil dort die ausgemusterten Kolleginnen und Kollegen sitzen: gescheit, gute Schreiber, aber alt und aufmüpfig.

Und dann, jetzt wieder durchaus aktuell, "The Americans". Diese Serie entführt uns zurück in die Zeit des Kalten Krieges in die USA, wo zwei russische Agenten, getarnt als biedere Vorstadt-Amis, immer absurderer Befehle der Moskauer Geheimdienstzentrale ausführen müssen.


Noch Ein Hinweis

Seuchen und Kriege, sie sind das Schlimmste, was uns Menschen passieren kann. "Die Welt danach. Leben, Arbeit und Wohlfahrt nach dem Corona Camp" lautet der Titel von Bernd Marins Buch, das vor einem Jahr im Falter Verlag erschienen ist. Eine Perspektive geben über das Gegenwärtige hinaus, das ist die Idee von Marins Buch. 

Damals dominierte Corona alles, heute ist es der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Zeitenwende, Zäsur, Krisen - es gibt viele Beispiele dafür, wie Gesellschaften daraus anders, stärker, reifer hervorgehen können. Um diese Perspektiven, um Zukunftsentwürfe nach dem Corona- und Kriegs-Camp geht es heute abend bei den Wiener Vorlesungen gehen - mit Bernd Marin und Journalist Hans Rauscher. Ich moderiere den Abend heute um 19 Uur. Also entweder schnell hier zum Livestream wechseln oder nachsehen: auf ORF III am 23. März um 23.55 Uhr sowie auf W24 am 22. März um 10 Uhr und um 21:30 Uhr.


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