's ist leider Krieg …

Klaus Nüchtern
Versendet am 22.04.2022

Im Herbst 1989 gingen im Zuge der so genannten „Montagsdemonstrationen" hundertausende Bürgerinnen und Bürger der DDR auf die Straße, um für eine demokratische Neuordnung des Staates zu demonstrieren. „Wir sind das Volk" lautete der Slogan, unter dem – was damals kaum jemand ahnte – der Anfang vom Ende der DDR eingeläutet wurde: Ein Jahr später war der sozialistische deutsche Staat Geschichte.

Unter den Demonstranten fand sich auch einer, der ein Transparent mit der Aufschrift „Ich bin Volker" in die Höhe hielt. „Den Mann, der das geschrieben hat, den brauchen wir in nächster Zeit", meinte der Dramatiker und Schriftsteller Heiner Müller in einem Spiegel-Interview aus dem Juli 1990, in dem er die Deutsche Einheit als „Unterwerfung" bezeichnete. Auch mir hat besagter Spruch immer gut gefallen. Er artikuliert eine Form der sanft-ironischen Dissidenz innerhalb des Konsenses, ein Zögern, sich ins große Kollektiv einzuklinken und ein Beharren darauf, in erster Linie für sich selbst zu sprechen.

Zögerlichkeit, Ironie und sanfte Renitenz sind momentan keine allzu stark nachgefragten Ressourcen. Stattdessen verlangt werden Bekenntnisse und klare Stellungnahmen: „Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde", heißt es in der Offenbarung des Johannes. Das Bedürfnis nach und die Freude an der Eindeutigkeit ist nur allzu verständlich. So unübersichtlich und schwer überschaubar die militärischen Fronten im Ukraine-Krieg für den Laien auch sein mögen, so klar sind die moralischen: Es gibt einen eindeutigen Agressor; wo und durch wen „unsere Werte" verteidigt werden, scheint ebenso eindeutig.

Zugleich werden Überzeugungen, die bislang als unverrückbar, ja als Fundament „unserer Nachkriegsidentität" galten, über Nacht entsorgt. Wer dennoch an ihnen festhält, muss sich fragen lassen, ob er oder sie der Ukraine das Recht auf Verteidigung abspreche oder gar für die Kapitulation sei? Nein, natürlich nicht. Wenn Vladimir Selenskyj und Vitali Klitschko Solidarität in Form von Waffenlieferungen oder der Einrichtung einer Flugverbotszone fordern und darauf hinweisen, dass das auch „unser Krieg" sei und sich der Westen da nicht raushalten könne, ist das verständlich und legitim, aber allenfalls in einem höheren Sinne zutreffend. Putin meint den Westen, er bombardiert aber (vorerst) nur die Ukraine.

Ob es dabei bleibt, wissen wir nicht, ich hoffe es aber sehr. Abgesehen einmal davon, dass es zweifelhaft ist, ob damit irgendjemand geholfen wäre, bin ich nicht bereit, „unsere Werte" mit der Waffe in der Hand in der Ukraine zu verteidigen. Ich weiß schon, dass das niemand wirklich von mir verlangt. Ich finde aber auch, dass jemand, der vor dieser letzten ganz persönlichen Konsequenz zurückschreckt, sich eine gewisse rhetorische Zurückhaltung auferlegen darf, ja vielleicht sogar auferlegen sollte. Hans Magnus Enzensberger hat den sehr brauchbaren Begriff „Gratismut" geprägt. Dem verwandt wäre die „Gratissolidarität". „Wenn Europa die Ukraine nicht unterstützen will, respektiere ich das", meinte der belarussische Autor Sasha Filipenko im Falter-Interview (13/22 34-35). Nicht ohne hinzuzufügen:Aber ich sehe auch nicht ein, warum dann das Brandenburger Tor in den ukrainischen Farben beleuchtet wird. Davon hat die Ukraine nichts." Eine Solidarität, die nichts kostet, ist eben nichts wert.

Solidarität muss ja nicht gleich das eigene Leben kosten. Man muss nicht zur Waffe greifen, kann sich stattdessen anderweitig engagieren oder einfach Geld an Organisationen spenden, die sich mit den entsprechenden Hilfeleistungen gut auskennen. Und man darf das in aller Stille tun, muss keine Tweets, Kolumnen oder Leitartikel damit füllen. Erst recht wieder die eigene Betroffenheit ins Schaufenster zu stellen, kommt dem, was der Philosoph Rudolf Burger einmal als „Sekundärausbeutung der Opfer" bezeichnet hat, doch schon unangenehm nahe.

Der deutsche Schriftsteller Maxim Biller hat – immer davon überzeugt, dass es die ganze Welt erschüttert, wenn er sich an die schmächtige Brust klopft – unlängst in einem pathostriefenden Kommentar für die Zeit erklärt, in Zukunft kein Schriftsteller mehr sein zu wollen. Junge, dann lass es halt! Aber lamentier wenigstens nicht selbstergriffen rum. Literatur, wenn sie glücken soll, muss den richtigen Ton zu treffen, muss mit ihren Mitteln hauszuhalten wissen – gerade bei heiklen Themen. Einer, der das vermocht hat, war Matthias „Der Mond ist aufgegangen" Claudius (1740–1815). Es ist kein Zufall, dass sein „Kriegslied" von 1778 jetzt wieder vermehrt zitiert und beachtet wird – etwa von Anne-Catherine Simon in der Presse. Wenn man so etwas wie die Grauen des Krieges und die eigene Betroffen- und Hilflosigkeit auf souveräne Weise zusammendenken und -reimen kann, dann ist das Matthias Claudius mit seinem „Kriegslied" gelungen. Es geht so:

’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß,
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?

Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten und mir fluchten
In ihrer Todesnot?

Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
Wehklagten über mich?

Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammelten, und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich herab?

Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
’s ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!

Wem solche Verse nicht gegeben sind, kann einen bescheidenen Beitrag zum Frieden vielleicht durch ein Stück gelebter rhetorischer Abrüstung leisten. Die Weltpolitik ist kein Fußballmatch, das nur Spaß macht, wenn man eine der beiden Mannschaften lauthals anfeuert. Und Journalismus ist kein Heereskommando, muss daher auch keine Tagesbefehle ausgeben. Es besteht des weiteren durchaus keine Notwendigkeit, ständig moralische Zensuren zu verteilen und Berufs- und Auftrittsverbote einzufordern. Man darf auch manchmal sagen: „I would prefer not to."

Ihr Klaus Nüchtern


Aus Dem Falter

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Hörtipp

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Lesetipp

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Zur Ergötzung

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Aus Dem Archiv

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