Soap & Dreadlocks

Matthias Dusini
Versendet am 29.04.2022

Das Schema ist immer das gleiche. Auf einem US-Campus oder in irgendeiner politischen Sekte passiert eine unsinnige Aktion, und sogleich eilen mehrere Regimenter von Feuilletonist:innen herbei, um die Bagatelle zum Weltereignis aufzublasen. So geschehen erst unlängst, als die Musikerin Ronja Maltzahn von einer deutschen Ortsgruppe der Fridays-for-Future-Bewegung ausgeladen wurde. Eine weiße Frau wie Maltzahn dürfe keine Dreadlocks tragen, lautete der Vorwurf, sie würde die jamaikanische Tradition vereinnahmen. Die Dreadlocks gaben Anlass, über die Kritik an der sogenannten Cultural Appropriation nachzudenken, an der Aneignung der Kultur von Minderheiten.

Genau darum geht es bei der aktuellen Ausgabe des heute beginnenden Kremser Donaufestivals. Die Popkultur wäre ohne kulturelle Aneignung, ohne Raubkopie und Imitation nicht vorstellbar. Unter dem Titel "Stealing the Stolen" führen Musiker:innen und Performer:innen vor Augen, wie produktiv der symbolische Austausch sein kann. In Anlehnung an den nigerianischen Musiker Fela Kuti (1938–1997) gab sich etwa der deutsche Experimentalmusiker Julian Warner den Namen Fehler Kuti, ein bewusster Strickfehler, der das Vorbild zugleich ehrt und verfremdet.

Festivaldirektor Thomas Edlinger legt in einem Essay für den Standard seinen Blick auf die Cultural Appropriation dar. Einerseits versteht er die Anliegen antirassistischer Aktivist:innen, die die Plünderung unterdrückter Ausdrucksformen durch die Kulturindustrie kritisieren. Andererseits lehnt er die Auswüchse woker Boykottaufrufe ab, die, wie die im Falle der Dreadlocks, die Logik von Jugendkultur angreifen. Dreadlocks erzählen von Rebellion, auch wenn sie auf dem Kopf weißer Teenager verfilzen. 

Ich kenne diese Wigl-Wagl-Position nur zu gut. Gemeinsam mit Edlinger publizierte ich vor zehn Jahren das Buch "In Anführungszeichen" über die Political Correctness. Bevor woke oder wokeness zu gängigen Bezeichnungen wurden, um die Kämpfe für Menschenrecht zu benennen, dominierte "Political Correctness" die Debatten. Bereits damals fiel es uns schwer, uns auf eine Seite zu schlagen. Einerseits ist das Engagement für körperliche und psychische Unversehrtheit, dieses universelle Recht, eine große Sache. Andererseits, Sie wissen schon: Opferwettkampf, Sprach-Tüv und Humorferien. 

So bin ich gespannt, wie die Künstler:innen in Krems mit dem Dilemma umgehen. Hier treten lauter Menschen auf, die sich mit den Ideen von Antirassismus und Postkolonialismus identifizieren. Können die woken Bard:innen dann überhaupt noch eine „schwarze“ Bluesgitarre in die Hand nehmen oder zu einem jamaikanischen Reggae-Rhythmus tanzen, ohne sich wie Pferdedieb:innen zu fühlen?

Eine Künstlerin wie Soap & Skin ist eine Mitteleuropäerin mit allen damit verbundenen Privilegien. Auf dem Donaufestival tritt sie mit der Interpretation fremder Lieder auf. Ist das Diebstahl oder Inspiration? Der Zauber der Musik wird das akademische Kopfweh vergessen lassen.

Ihr Matthias Dusini


Aus Dem Falter 1

In der FALTER:WOCHE finden Sie einen ausführlichen Blick über das Donaufestival 2022, das den Titel "Stealing the Stolen" trägt. Die Veranstaltung findet vom 29.4. bis 1.5. und vom 6. bis 8.5. in Krems statt.


Aus Dem Falter 2

Auch die moderne Kunst ist voller Cultural Appropriation. Anlässlich einer Modigliani-Ausstellung in der Wiener Albertina habe ich mich mit der Frage beschäftigt, ob die Pariser Modernisten afrikanische Kulturen beklaut haben. Den Artikel finden Sie hier.


Podcast

Die ukrainische Massenflucht und wir: Im aktuellen FALTER-Podcast geht es um Europas Antwort auf die Fluchtbewegungen aus der Ukraine. Es diskutieren Margit Ammer (Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte), Sabine Bauer-Amin (International Rescue Committee Landau) und Albert Kraler (Universität für Weiterbildung Krems). Die Moderation hat Rainer Bauböck von der Akademie der Wissenschaften übernommen.


Falter Natur

Eine Milliarde Menschen – das sind 10 Prozent der Weltbevölkerung - leidet akut unter der Hitzewelle, die derzeit über Indien und Pakistan hinwegrollt. Extreme Hitze fordert Opfer: Die große Hitzewelle in Europa 2003 raffte damals in wenigen Wochen 70.000 Menschen dahin. Kaum vorstellbar, was eine vergleichbare Hitzeperiode in Indien und Pakistan bedeutet. Benedikt Narodoslawsky klärt im aktuellen FALTER.natur-Newsletter auf und wundert sich, dass es eine derartige Katastrophenmeldung trotzdem nicht in die Top-News schafft.


In Eigener Sache

Gestern präsentierte unser Podcast-Host und langjähriger Außenpolitik-Journalist Raimund Löw im Bruno Kreisky Forum sein neues Buch "Welt in Bewegung". Gemeinsam mit dem Publikum und Kolleg:innen aus der Außenpolitik diskutierte er über die geopolitischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, die im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine mündeten. Wir bedanken und bei allen, die diesen wirklich spannenden Abend mit uns verbracht haben. Die Veranstaltung wird demnächst auch als Video und Podcast verfügbar sein.


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"FALTER Arena - Journalismus live" - Baumann/Klenk/Niggemeier/Thür - 1. Oktober, Stadtsaal
Diskussion zum Thema "Lügenpresse? Die Vertrauenskrise des Journalismus"